LÖBLICHE SINGERGESELLSCHAFT
VON 1501
PFORZHEIM


Wir alle sind Wirtschaft –
mit neuer Kommunikation zur Zukunftsgestaltung

Vortrag anlässlich der Jahreshauptversammlung der LÖBLICHEN SINGERGESELLSCHAFT
VON 1501 PFORZHEIM am 6. Januar 2011

Burkhard Thost, Präsident der IHK Nordschwarzwald


1. Die Löblichen Singer und bürgerschaftliche Verpflichtung

510 Jahre der Gemeinschaft verpflichtet, das hat viel zu tun mit Wirtschaft, war doch ihre Geschichte immer auch mit wirtschaftlichen Entwicklungen verknüpft.

510 Jahre sind Sie immer dort durch persönlichen Einsatz tätig geworden, wo Politik, Kriege und öffentliche Wirren Wirtschaft zum Erliegen gebracht haben und damit die Grundlage für soziales Miteinander zerstört und gefährdet wurde.

Aber auch in Zeiten des Aufbruchs haben sich mehr Menschen denn je zu den Zielen und der Verantwortung der Löblichen Singer bekannt:

In den 100 Jahren von 1810 bis 1910, als Pforzheim von einer Kleinstadt mit 5.500 Einwohnern auf
fast 70.000 Einwohner anwuchs, als die Wirtschaft Perspektiven bot, nach 1871 nicht umsonst Gründerzeit genannt.

In dieser Zeit sind sie von 25 auf über 1.000 Mitglieder gewachsen, haben sich zu einer Initiative mit sozialer Verantwortung für Stadt und Gemeinwesen entwickelt.

Wenn in den 70er Jahren die Bezeichnung als erste Bürgerinitiative der Stadt formuliert wurde,
verstehen Sie seit über 500 Jahren etwas von dem, was ganz aktuell mit Stuttgart 21 und der
Schlichtung offenbar wurde:

Bürger wollen Staat und Regierung vertrauen können oder, wenn dieses Vertrauen nicht hinreichend
trägt, wollen sie selbst mitwirken, selbst einbezogen werden.

In den letzten Jahren haben besonders die Finanzkrise und die Sanierungsmaßnahmen der Bankenlandschaft ein solches Grundvertrauen belastet, Zukunftsängste und Unsicherheiten ausgelöst, obwohl tragende Brücken über die Krise geführt haben.

So gesehen ist die Auseinandersetzung um Stuttgart 21 nur ein Beispiel für weitreichende
Zukunftszweifel und Vertrauensdefizite.

Die Schlichtung zu Stuttgart 21 hat deutlich gemacht,

- dass Bürger nicht besser über die technische Auslegung von Tunnelquerschnitten befinden können
und wollen als jahrelange Ingenieurarbeit, auch wenn dort Fehler gemacht und korrigiert werden
wie überall, wo Menschen tätig sind,

- dass Bürger nicht besser komplizierte Betriebskonzepte eines Großbahnhofes entwickeln können
und wollen als es Fachleute in zig Alternativen getan haben,

- dass scheinbar attraktive Alternativen ebenso mit Risiken und Unzulänglichkeiten behaftet sind.

Über allen Sachfragen ist deutlich geworden, dass Bürger sich in ihrem Interesse wahrgenommen
sehen wollen: Bürger spüren, dass sie alle betroffen sind, Jung und Alt, oben und unten, in Politik
und Wirtschaft und wegen dieser Betroffenheit Kommunikation und Teilhabe einfordern – aber auch
zu konstruktiver Mitwirkung aufgefordert sind: Das Verfahren spricht ausdrücklich von Anregungen
und Bedenken.

Es gibt nicht nur die Bringschuld von Politik, Wirtschaft und Verwaltung, es gibt auch die Holschuld
der Bürger, sich in der Sache zu informieren, sich zeitgerecht einzubringen, wie es in allen Genehmigungsverfahren vorgesehen ist.

Andererseits wurde auch deutlich, welche verheerenden Folgen es haben kann, wenn demokratische Entscheidungsprozesse plötzlich keinen verlässlichen Bestand mehr haben und damit die Grundlagen
für komplexe Entwicklungen gänzlich verloren gehen.

Regelwerke können geändert werden, wenn Erfahrungen einen solchen Korrekturvorgang erforderlich erscheinen lassen, aber wir müssen zurückfinden zu einer unstrittigen Anerkennung von Regelwerken,
die Bestand haben, auch unabhängig von jeweiligen Ergebnissen und Ideologien.

Hiermit müssen wir uns auseinandersetzen, wenn wir die Veränderungen und Fragen, die zwangsläufig
auf uns zukommen, zum Wohle unserer Gesellschaft und zum Wohle unseres Landes auch in Zukunft
und für unsere Zukunft im Konsens gestalten und umsetzen wollen.

Energie, Infrastruktur, globale Wirtschaft, Demografie, Bildung und Integration stellen uns vor solche zentralen, dringenden Gestaltungsaufgaben, vor deren Lösung wir die Augen nicht verschließen können
und dürfen, die wir zeitnah angehen und herbeiführen müssen, weil sonst die Weichen woanders und
dann nicht immer in unserem Interesse gestellt werden, weil wir diese Fragen auch nicht als Altlasten unseren Kindern überlassen dürfen und damit der nachfolgenden Generation eine Chance im globalen Wettbewerb verbauen würden.

Ich habe selbst ganz aktuell auf Geschäftsreisen, besonders nach Mittelost und Asien, erfahren müssen,
wie man plötzlich unsere Gestaltungskraft in Frage stellt, unseren Anspruch auf eine Vorreiterrolle in Zweifel zieht.

Oder haben wir wirklich schon etwas davon verloren? Stimmt es noch: „Wir können alles, außer…..“?

Wenn wir unseren Anspruch als führende Partner in der Welt erhalten wollen, müssen wir beweisen,
dass wir zu Hause zukunftsorientiert, effizient und entwicklungsfähig sind. Alles andere gefährdet
unsere soziale Grundlage, unseren Wohlstand, unsere Zukunft.

Es wird deutlich:
Alle Fragen haben mit Wirtschaft zu tun: - Entweder sind die Lösungen Grundlage für erfolgreiches Wirtschaften oder die Wirtschaft wird selbst Grundlage, wie sie für Bildung, Soziales, Kultur und Wohlergehen unmittelbares Fundament ist.

Ein Fazit aus der gesellschaftlichen Dimension der aufgebrochenen Auseinandersetzung lautet:

Wir alle sind Wirtschaft – Zukunftsgestaltung wird nur möglich mit neuer Kommunikation.


2. Welchen Grundgedanken sollten wir in unseren gesellschaftlichen Auseinandersetzungen mehr Beachtung schenken?


2.1 Das Spannungsfeld von Individualinteresse und Gemeinwohl

In unserer Gesellschaft führt jede Veränderung im öffentlichen Raum zu Eingriffen in Individualinteressen. Wie einfach wäre ein Abbau von überfälligen Subventionen, wenn nicht sofort ein Einzelinteresse oder
das einer kleinen Gruppe betroffen wäre.
Einzelinteressen haben in unserer Individualgesellschaft einen immer höheren Stellenwert eingenommen.
In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik waren gemeinschaftliche Aufbauaufgaben offensichtlich
und unstrittig, auch für den Vorteil des Einzelnen. Jeder hat gesehen, dass individuelle Lebensqualität
nur möglich wurde mit öffentlicher Infrastruktur, mit Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, mit öffentlicher Sicherheit und sozialen Netzen. Es fehlten ja auch fundamentale Grundlagen.
Diese Erkenntnis hat zusammengeführt in unstrittigen, gemeinsamen Zielen.

Heute haben wir uns auf einen hohen Besitzstand eingerichtet – und der wird verteidigt, weil die Grundlagen des Gemeinwohls nicht gefährdet scheinen. Der Schein trügt.

Wenn wir heute die Diskussion um den Ausbau der Autobahn A8 in der Enztalsenke direkt vor
unserer Haustür verfolgen, scheint es vornehmlich um die Wahrung von Einzelrechten oder Gruppeninteressen zu gehen. Jeder dort weiß seit Jahrzehnten um die Existenz und Belastung durch
die Autobahn, auch beim Bau der heute betroffenen Häuser und Wohnungen. Dennoch werden
finanzierte, zeitnah realisierbare Lösungen abgelehnt und bekämpft, weil in wenigen Einzelfällen die nächtliche Lärmbelastung mit 1 oder 2 Dezibel über der zulässigen Norm nur mit Gestellung von Schallschutzfenstern ausgeglichen werden kann.

Ganz klar: Es bleibt eine individuelle Betroffenheit, die allerdings seit Jahren absehbar war.
Natürlich gibt es weitergehende Tunnellösungen, die jegliche Belastung vermeiden, um einen Preis,
der leicht den Neubau dieser Häuser an anderer Stelle, weit entfernt von der Autobahn, ermöglichen würde.

Wenn gegenüber diesem Einzelinteresse kein deutliches Gemeininteresse mehr erkennbar ist und wahrgenommen wird, wird auch eine Abwägung nicht mehr verstanden und akzeptiert.

Es gibt solches Gemeininteresse auch in diesem Fall, nur zeigt auch dieses Beispiel, um wie viel
komplexer die Zusammenhänge sichtbar sind als die unmittelbare Betroffenheit des Einzelfalles:

- Da ist zunächst die Abwägung des Mitteleinsatzes aus Sicht des Bundes: Wenn an anderer Stelle
mit zusätzlichem Geld mehr und dringendere Grundsicherung erreicht werden kann, führt dies
zwangsläufig zur Zuweisung auf ein solches Vorhaben – aus einer Gesamtschau vernünftig und
durchaus im Gemeininteresse.

- Dann unsere Region: Es ist wichtig, dass wir schnellstmöglich eine leistungsfähige, staufreie
Verkehrsader um Pforzheim und die Region erhalten, dass wir endlich aus den Staunachrichten herauskommen, dass die Region als Wirtschaftsstandort deutlich gewinnt und nicht wegen
unberechenbarer Verkehrsverhältnisse im Wettbewerb mit anderen Regionen gemieden wird.

Kurz: 200.000 Menschen oder mehr haben ein vitales Interesse an der Sicherung ihrer wirtschaftlichen Lebensgrundlagen – und die A8 Enztalsenke ist ein lange überfälliger Puzzlestein im 1.000 Teile Puzzle
der Zukunftssicherung und Prosperität einer ganzen Region.

Das ist nicht leicht vermittelbar. Das ist aber die Abwägungsaufgabe, die wir von Politik, Verwaltung
und Wirtschaft einfordern müssen und zu der verlässliche Politik stehen muss – auch wenn es nicht
immer honoriert wird. Daran können wir auch verlässliche Politik messen.

Das übergeordnete Gemeinwohl hat seine öffentliche Lobby verloren. Hier haben wir alle eine Aufgabe und Chance zur Gestaltung und Mitwirkung: Dem Gemeinwohl wieder Geltung zu verschaffen in der hitzigen Diskussion um Einzelinteressen, Ideologien oder Macht. Diese Chance dürfen wir uns nicht entgehen lassen – in Gesprächen mit Freunden, am Arbeitsplatz, mit Verantwortlichen in der
Öffentlichkeit und dabei auf informierter Abwägung von einzelner Betroffenheit und nachhaltigem Gemeinwohl bestehen.


2.2 Umgang mit Risiken

Null-Risiko-Strategien gibt es nicht in der Wirtschaft, im ganz normalen Leben und in der Entwicklung einer Gesellschaft.

Unser Verhältnis zum Risiko hat sich immer mehr zur Risiko-Ablehnung verschoben: Am liebsten die Abenteuer-Urlaubsreise mit Total-Versicherung gegen jedes Abenteuer.

Dieses wird besonders deutlich gegenüber technischen Neuerungen und Entwicklungen – es kann fataler nicht sein für eine Nation, die nur neue Technologien, neue Lösungen exportieren und anbieten kann.

Erneuerbare Energien ja, aber keine neuen intelligenten Netze.

Eine leistungsfähige Bahn ja, aber keine neuen Bahnnetze.

Gesicherte Welternährung ja, aber keine Gen-Beeinflussung bei uns.

Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen – leider in einem Land mit höchsten Sicherheitsstandards, mit höchstem Technologieanspruch, mit weltweit anerkannten Ingenieuren.

Wenn wir uns keinen Tunnelbau in Stuttgart mehr zutrauen, können wir dann weltweite Partner für Tunneltechnologie sein?

Wenn wir CO2-Abspaltung in Kohlekraftwerken ideologisch ablehnen – wer soll dann für hunderte von Kohle-Großkraftwerken in China moderne Reinigungs- und Umwelttechnik anbieten?

Wir müssen unsere pauschale Technikfeindlichkeit wieder in Begeisterung für neue Technologie wandeln – gepaart mit einem ganz bewussten Risiko-Management. Wir müssen wieder lernen, Risiken und ihre Beherrschung in unsere Strategien einzubeziehen.

Ablehnung, überzogene Technik, Zweifel bergen ein viel zu hohes Risiko – das Risiko des Stillstandes,
des Verlustes der besten Köpfe, des Verlustes unserer Anerkennung in der Welt als Partner für Zukunftslösungen.

Bei neuen Stromnetzen, neuer Infrastruktur, auch bei Rente mit 67 können wir es uns nicht mehr leisten, pauschal nein zu sagen – vielmehr müssen wir fragen, diskutieren, forschen, entwickeln, probieren wie
wir Risiken daraus beherrschen, wie wir neue Lösungen nachhaltig und für die Beteiligten verträglich und vorteilhaft machen: In diesem neuen Denken sind wir alle gefordert – das alte können wir uns nicht mehr leisten – es wäre ein unverantwortbares Risiko.

Zitat aus dem Handelsblatt / Jürgen Hambrecht, BASF vom 04.01.2011:

„Was wir brauchen, ist nicht eine Innovation, wir brauchen ein ganzes Feuerwerk von Innovationen: In der Energietechnik, in der industriellen Fertigung von Gütern, in der Landwirtschaft, bei Ernährung und Gesundheit, bei der Mobilität und beim Bauen und Wohnen. Gerade der deutschen Industrie traue ich zu, auf all diesen Gebieten bedeutende Beiträge zu leisten.
Das Problem aber ist, dass wir uns dabei selbst auf denn Füßen sehen. Noch bevor wir über die Chancen neuer Technologien reden, wollen wir hundertprozentige Garantien, dass jedes Risiko ausgeschlossen ist. Darauf kann sich kein ernsthafter Wissenschaftlicher einlassen: Es gibt kein Nullrisiko! Wir können aber mögliche Risiken so weit eindämmen, dass sie verantwortbar sind.
Das galt einst für die Entwicklung der Eisenbahn, des elektrischen Stroms und des Autos genauso wie es heute für Nanotechnologie oder die grüne Biotechnologie gilt.
Für 2011 wünsche ich uns in Deutschland, dass wir alle wieder neugieriger auf die Zukunft werden. Dass wir nicht nur die Probleme sehen, sondern uns vor allem dafür interessieren, wie
man sie lösen kann.“



2.3 Zeit als Entscheidungskriterium

Beispiel: Westtangente und Arbeitslosigkeit – ein guter Baustein viel zu spät. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“

Jede Entwicklung muss also auch vor dem angemessenen Zeitrahmen gesehen werden, und nicht wir
legen die Entwicklungsgeschwindigkeit mehr allein fest, sondern unsere Wettbewerbsländer in Europa,
in Asien, in der ganzen Welt.

Eine weiter perfektionierte Lösung für Stuttgart 21 und die Neubaustrecke mit 10 bis 15 Jahren Verspätung verspielt jeden Vorteil durch Zeitnachteile. Das nicht zu bewerten wäre fahrlässiger
Umgang mit den Chancen unserer Kinder und nachfolgender Generationen.


3. Zentrale Themen

Abwägung von Individual- oder Gruppeninteresse gegenüber einem übergeordneten Gemeinwohl, bewusster Umgang mit Risiken und Bewertung der Zeit sollte unsere Kommunikation, unser Gespräch, unsere Suche nach Lösungen wieder stärker bestimmen. Hierzu können wir alle beitragen, denn die zentralen Themen betreffen uns alle:

- Infrastruktur
- Energie und Rohstoffe
- Fachkräfte und Demographie
- Bildung

Die „Rente mit 67“ zeigt, wie sehr wir alle gefordert sind, abzuwägen, Risiken zu sehen und Zeit
zu nutzen:

Beispielaufgabe: 20 Jahre neue Gestaltung der Arbeitswelt.

Mit diesen Anregungen für eine neue Kultur unserer Kommunikation sind die Aufgaben nicht erledigt – aber wir dürfen zuversichtlich sein, sie erfolgreich zu meistern – packen wir es an:
Ein „Heimspiel“ für Löbliche Singer.


4. Wo stehen wir in Pforzheim und der Region?

4.1 Zunächst erfreuliche Nachrichten:

Die Wirtschaft in Pforzheim und in der Region hat sich nach der Krise genau so erholt wie anderswo
im Land, Arbeitslosigkeit ist ebenso gesunken, Unternehmen haben die Zeit der Krise vielfach zur Erneuerung von Produkten, Organisation und Entwicklung neuer Märkte genutzt und zu soliden
Positionen gefunden. Die Krise hat auch Opfer gefordert – dort wo die Zeit über Geschäftsmodelle hinweggegangen ist. Letztlich können wir heute auf eine wiedergewonnene wirtschaftliche Basis
vertrauen, die auch Zukunft ermöglicht – genauso wie in Regionen, die mit uns im Wettbewerb
stehen – unser Platz im Wettbewerb hat sich damit allerdings noch nicht verbessert.

Arbeitslosigkeit ist erfreulich gesunken, aber die Position im Landesvergleich ist geblieben – die
Aufgaben liegen also noch vor uns.

Keine Zeit ist besser geeignet, neue Wege zu beschreiten, als die nach einem bereinigenden Gewitter –
die Gefahren der Krise noch in Erinnerung, die Chancen des Aufschwungs vor Augen.

Sind wir bereit, in Pforzheim und in unserer Region Zukunft zu gestalten?


4.2 Neues Selbstverständnis

Wir alle wissen, dass der wirtschaftliche Wandel der letzten Jahrzehnte keine leichte Ausgangsposition
für Pforzheim geboten hat.
Wie verständlich, dass die Menschen in unserer Stadt nach den Zerstörungen des Krieges den wirtschaftlichen Aufschwung und die Erfolge der heimischen Industrie bis weit in die 70er Jahre mit
hoher Identifikation aufgenommen haben: Das war das Wirtschaftswunder der jungen Bundesrepublik. Aber es war hier in dieser Stadt ganz besonders Aufbauwille, harte Arbeit und es waren traditionelle Fähigkeiten, die in der Welt wieder gefragt waren und ein herausragendes Alleinstellungsmerkmal darstellten.

Über 30.000 Menschen waren in der Schmuck- und Uhrenindustrie beschäftigt und gaben der Mehrzahl der Menschen dieser Stadt Lebensgrundlage, Anerkennung und prägten das Selbstverständnis der Goldstadt Pforzheim.

Die Welt und die Wirtschaft entwickelte sich immer schneller und aufstrebende Länder machten die Alleinstellung streitig in einem Wettbewerb, nicht nur um Kostenführerschaft mit niedrigen Löhnen,
sondern zunehmend auch im Wettlauf um Ausbildung und Innovation.

Aktuelles Beispiel: Singapur von der verlängerten Werkbank zum „Home of Talents“ – zur Heimat der Talente, zum führenden Forschungsstandort, z. B. der pharmazeutischen Industrie.

Diese Trends mit den Anfängen in den 80er Jahren halten an und setzen sich heute besonders in Asien verstärkt fort. – Dort werden Maßstäbe und Geschwindigkeit des Wettbewerbs gesetzt.

Lange, viel zu lange, wurden hier die selbstbewussten Botschaften der Wettbewerber aus aller Welt übersehen oder verdrängt – auch noch, als nur noch weniger als 3.000 Menschen in der
Schmuckindustrie tätig waren und beim besten Willen die Wirtschaft dieser Stadt nicht mehr tragen konnten.

Zwischenzeitlich waren neue Technologien, neue Branchen und Arbeitsplätze entstanden und teilweise
aus der Schmuckindustrie hervorgegangen – aber das alte Selbstverständnis „Goldstadt“ lebte
unverändert fort: Für viele Menschen ohne Bezug, ohne Anerkennung und Wertschätzung ihrer
neuen Berufe, ihrer Fähigkeiten und für ihren Beitrag zum Leben dieser Stadt.

Selbstverständnis und Realität stimmten nicht mehr überein und das war sicher auch ein Grund für die
oft zur Schau gestellte Unzufriedenheit mit Allem hier, auch wenn es oft keinen Vergleich mit anderen Städten und Regionen zu scheuen brauchte. Der „Bruddler“ beherrschte die Stimmung – schlechte Zeiten für einen Aufbruch.

Umso wichtiger ist damit ein erster, lange eingeforderter Schritt auf unserem Weg zur Gestaltung
unserer Zukunft:
Mit den Begriffen „Präzision und Design“ offiziell seit gut 1 Jahr dem Label „Goldstadt“ hinzugefügt,
finden viele Menschen wieder Anerkennung für das, was sie tun. Sie gehören wieder dazu. Mit dem Bekenntnis zur Präzisionsindustrie, zu Stanz- und Oberflächentechnik, Werkstofftechnologie und Design hat sich das Selbstverständnis geweitet, haben wir einen Blick auf neue Stärken gewonnen, sehen neue Märkte und neue Chancen. Das macht Mut und gibt Identifikation. Der Bruddler dürfte in Pforzheim
bald arbeitslos sein.

Ganz bewusst stelle ich diesen Wandel im Selbstverständnis an die erste Stelle auf einem Weg, den Pforzheim beschritten hat und auf dem wir alle erfolgreich Zukunft selbst in die Hand nehmen können.
Die Menschen dieser Stadt werden sich ihrer Stärken bewusst. Hierauf lässt sich bauen. Weitere Entwicklungen sind von großer Bedeutung:


4.3 Pforzheim hat sich dem Machbaren zugewandt.

Ein Beispiel ist nach langer Vorbereitung und Bürgerbeteiligung die schrittweise Umsetzung des Verkehrsentwicklungsplanes – ohne sich dabei von neuerlichen Diskussionen um Stadtbahnen bis in
die weitere Umgebung aus dem Tritt bringen zu lassen. Manchmal hilft eben auch ein Kassensturz,
den Blick auf die Realitäten zu stärken. Da bleiben Traumdiskussionen von selbst auf der Strecke –
das gibt freie Kräfte, endlich zu handeln. Aufgaben und Beispiele gibt es genug – hier möchte ich der Neujahrsbotschaft von Herrn OB Hager nicht vorgreifen.

Eines darf angemahnt oder erinnert werden: Es gibt bemerkenswerte private Bereitschaft zu
Investitionen und unternehmerischem Engagement in dieser Stadt – das dürfen wir nicht mehr den
Mühlen einer Verwaltung nach überkommenen Strukturen preisgeben. Z. B. ein klares Zentren- und Märktekonzept – wo soll künftig was stattfinden – ist lange überfällig und gibt privater
Wirtschaftsinitiative und dem Handel klare Rahmenbedingungen. Doch: Wir dürfen zuversichtlich sein;
die Erwartungen an klare Botschaften sind hoch.


4.4 Die Rolle als Oberzentrum

Ein Drittes findet erst langsam in ein breites Verständnis: Die Stadt, das Oberzentrum Pforzheim, lebt
und entwickelt sich von und mit seiner Umgebung. Hier bietet das Potenzial der Region Nordschwarzwald als Tourismus-, Erholungs- und Gesundheitsregion noch wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten mit Ausstrahlung und Aufwertung für diese Stadt: Lassen Sie uns einfach anfangen, über diese besondere Umgebungs- und Lebensqualität zu reden. Hier zu leben und zu arbeiten hat Qualität und Perspektive.
Die Botschaft kommt an und wird ihre positive Wirkung nicht verfehlen. Es gilt Menschen mit guter Ausbildung und Qualifikation hier zu halten und für unsere Region zu gewinnen.


4.5 Pforzheim – ideal gelegen

Genauso sollten wir noch mehr unsere vorteilhafte Lage und Vernetzung in Nachbarschaft zu den Metropolregionen Karlsruhe und Stuttgart her-ausstellen und bewusst aktivieren. Die Krise hat deutlich gezeigt: Wenn es der Wirtschaft in Stuttgart schlecht geht, können wir in Pforzheim nicht aufblühen. Pforzheim ist verbunden mit den Wirtschaftsräumen in Baden-Württemberg und weit darüber hinaus:
Deshalb sollten wir aufhören, dem Orientexpress oder Einzelzugverbindungen, z. B. nach Nürnberg, nachzutrauern.
Wir brauchen ein Baden-Württemberg, das mit leistungsfähiger Infrastruktur an die nationalen und europäischen Zentren angebunden ist – zeitnah und nicht erst in Jahrzehnten – und wir wollen mit diesen Lebensadern der Wirtschaft verbunden sein – einfach, verlässlich und regelmäßig. Anbindungen an die modernen ICE-Netze in Karlsruhe und Stuttgart, an die Flughäfen der Region, und über leistungsfähige Straßen und Autobahnen in die Zentren selbst.

Manchmal schien das in den Diskussionen der vergangenen Monate fast vergessen, als ob wir uns abkoppeln könnten:
Wirtschaft in Karlsruhe und Stuttgart, in Baden-Württemberg, liegt in unserem Interesse – lassen Sie
uns eintreten für eine verlässliche, zukunftsgewandte Entwicklung und Politik, für alles, was die
Entwicklung in unserem Land fördert – das fördert auch unsere Stadt und Region.


4.6 Potenziale der Bildung

Vorschulische Bildung in Kindergärten und schulische Bildung sind der Schlüssel zur Integration und Grundlage für Beruf, lebenslanges Lernen und sozialen Standard. Hier liegt eine entscheidende Aufgabe
für Stadt und Land – Wirtschaft und private Initiative kann hier unterstützen und tut dies in bemerkenswerter Weise: Von Unternehmen eingerichtete Kindergärten, vielfältige Sprachförderung und dennoch bleibt hier eine Herausforderung für die Zukunft unserer Stadt: Wo es jetzt nicht gelingt durch Sprache und Schulbildung zu integrieren, geht Lebensgrundlage und soziales Miteinander auf Jahrzehnte verloren. Hier wird private Unterstützung noch lange gefragt sein – hier können wir sinnvoll helfen.

Die Wirtschaft der Region, Unternehmen aus Industrie, Handel, Dienstleistung und Handwerk konnten allen ausbildungsfähigen Jugendlichen Ausbildungsplätze bieten und damit Zukunft sichern – das ist eine wichtige und gute Nachricht für unser aller Zukunft – es bleibt die Aufgabe, auch dort Einstieg in den
Beruf zu ermöglichen, wo mangelnde Schulausbildung dieses heute noch verhindert – hier sind Schule
und Wirtschaft gemeinsam gefordert.

Heute erst in Anfängen öffentlich wahrgenommen ist die Entwicklung der Stadt Pforzheim zur Hochschulstadt. Waren vor fünf Jahren etwa 3.000 Studenten in Pforzheim eingeschrieben, werden
es Ende 2013 mehr als 6.000 sein.

Eine enge Kooperation von Hochschule und Wirtschaft hat vom Land mit Erfolg neue Studienfächer
und Ausbildungsgänge einfordern können. Die IHK war nach landesweitem Modell vom Wissenschaftsministerium federführend gefordert, die Praxisorientierung einzubringen und zu sichern. Stiftungslehrstühle von Unternehmen der Region haben diesen Prozess weiter gefördert – insgesamt
eine glänzende Perspektive für die Entwicklung von Stadt und Region.

Hier rufe ich die Unternehmen der Region auf: Nutzen Sie diese einmalige Chance, junge, gut ausgebildete Menschen, die schon hier sind, für Ihre Unternehmen zu gewinnen. Hier rufe ich die Stadt und die Bürger auf: Heißen Sie die Studenten willkommen, bieten Sie Wohnraum auch privat – gewinnen Sie die Studenten als Mitbürger in unserer Stadt – einen besseren Impuls können wir uns nicht wünschen.


5 Zusammenfassung und Ausblick

Wir alle gemeinsam gestalten unsere Zukunft, legen durch Wirtschaft Grundlage für soziales Miteinander, Kultur und Wohlergehen.

Dabei müssen wir anerkennen und akzeptieren, dass jede Veränderung Abwägung fordert, dass wir Gemeinwohl wieder stärker einbeziehen müssen, dass wir öffentliche Verantwortung nicht blindwütig abstrafen dürfen für die Wahrung übergeordneter Gemeininteressen.

Verantwortungsvoller Umgang mit Risiken und Zeit fordert uns alle in aktiver Auseinandersetzung, in Information, Austausch und Gespräch.

Die Themen machen deutlich, dass Weichen gestellt werden müssen und können – und hierfür sind wir auch in Pforzheim gut aufgestellt, um diese Aufgaben anzugehen – gemeinsam in verantwortungsvoller Abwägung, zeitnah und in offener Kommunikation.

Zuversicht hat hier eine gute Grundlage.




Copyright:
Alle Rechte vorbehalten.
Reproduktionen, Speicherungen in Datenverarbeitungsanlagen oder Netzwerken, Wiedergabe auf elektronischen, fotomechanischen oder ähnlichen Wegen, Funk oder Vortrag - auch auszugsweise - nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

Nach oben

 
Vortrag
Burkhard Thost,
Präsident der
IHK Nordschwarzwald

Copyright bei CKK Pforzheim, Stand 06.01.2015