LÖBLICHE SINGERGESELLSCHAFT
VON 1501
PFORZHEIM


Johannes Reuchlin als juristischer Gutachter:

"Der Ratschlag, ob man den Juden alle ire bücher nemmen, abthun und verbrennen soll."

Vortrag
Dr. iur. Lars Jungemann
, München
anlässlich der Matinee zur Stadtgeschichte im Reuchlinjahr 2005 am 06.11.2005

 
Vortrag

Eine der bekanntesten juristischen Schriften Johannes Reuchlins ist ein Gutachten, das er 1510 für Maximilian I., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, über das Schrifttum der Juden
zu erstellen hatte. Eindrücklich ist dieses Gutachten Reuchlins einmal durch sein Ergebnis, aber auch
– und hier liegt wohl das wirklich Besondere – durch seine Argumentation. Bevor wir uns mit der Form und der Argumentation Reuchlins näher befassen wollen, möchte ich Ihnen kurz den historischen Zusammenhang vorstellen.

Im Laufe des 15. Jahrhunderts waren Juden aus nahezu allen größeren Städten Deutschlands vertrieben worden. Ihre Weigerung, zum christlichen Glauben überzutreten, verstärkte Bestrebungen, dies endlich durch Zwang und Nötigung zu erreichen.

Diesem Ziel verschrieb sich auch Johannes Pfefferkorn, ein aus Prag stammender Jude, der 1505 zum Christentum konvertiert war. Er begann 1507 eine Hetzkampagne gegen seine früheren Glaubensgenossen in der Hoffnung, sie durch den Entzug der materiellen Existenz und der Lehrgrundlagen, also ihrer Schriften, zur Bekehrung zwingen zu können. Pfefferkorn gelang es schließlich durch persönliche Beziehungen zu einer Schwester des Kaisers, Kunigunde, die diesem nahe stand und deren Einfluß von Gewicht war, vom Kaiser am 19. August 1509 ein Mandat zu erhalten, alle gegen den christlichen Glauben und das Gesetz des Mose gerichteten Bücher einziehen zu dürfen.

Daraufhin beschlagnahmte Pfefferkorn in Worms und Frankfurt am Main mehrere hundert jüdischer Schriften.

Gegen dieses Vorgehen erhob der Mainzer Erzbischof Uriel von Gemmingen, der Kanzler des Kaisers, aus formalen Gründen Einspruch. Pfefferkorn mußte seine Beschlagnahme wieder einstellen. Kaiser Maximilian veranlaßte zudem die Rückgabe der Bücher und beauftragte den Erzbischof mit der Einholung von Gutachten der Universitäten von Köln, Mainz, Erfurt und Heidelberg sowie von Jakob Hochstraten, von dem zum Judentum konvertierten Priester Viktor von Karben und eben von Johannes Reuchlin, die
die Frage klären sollten, ob jüdische Bücher von Rechts wegen beschlagnahmt und vernichtet werden dürften.

Am 24. August 1510 erging an Reuchlin die Aufforderung des Kaisers "als Lehrer der Recht" ein Gutachten zu erstellen zu der Frage: "Ob man den Juden alle ire bücher nemmen, abthun und verbrennen soll?".

Am 6. Oktober, also nach knapp 6 Wochen, hatte Reuchlin seine juristisch anspruchsvolle Aufgabe
gelöst und ein Gutachten erstellt, in dem er sich eindeutig gegen ein Beschlagnahmen, Unterdrücken und Verbrennen jüdischer Schriften aussprach.

Dieses Gutachten schlug damals sozusagen ziemlich "Hohe Wellen". Es beeinflußte nicht nur das weitere Wirken, sondern auch das weitere Leben Reuchlins.

Reuchlin wurde vom Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ausdrücklich "als Lehrer der Recht" zur Abfassung einer gutachterlichen Stellungnahme aufgefordert.

Reuchlin ist als wohl bekanntester Sohn dieser Stadt landläufig bekannt als großer Humanist und Philologe. Er ist auch bekannt als Jurist. Dabei wird häufig erwähnt, dass Reuchlin dieser Profession freudlos gegenüber stand und ihm vornehmlich zum Broterwerb diente.

Dies beruht im wesentlichen auf Äußerungen Reuchlins, in denen er sich abfällig über die juristische Alltagsarbeit geäußert hat. Dies wird auch unterstützt, durch den Eindruck, Reuchlin habe sich ohne ausdrückliche Aufforderung nicht mit Juristischem beschäftigen wollen. Sicherlich kennt dies der ein
oder andere Jurist unter uns nur allzu gut.

Jedenfalls ist diese Klage über die Jurisprudenz auch schon damals durchaus üblich und gehörte unter
den humanistisch gebildeten Juristen seiner Zeit sozusagen zum guten Ton. Außerdem mag sich die
Kritik Reuchlins auf den Umstand bezogen haben, dass ihm durch die Juristerei zu wenig Zeit für seine sicherlich bevorzugten philologischen und hebräischen Studien blieb.

Diese Äußerungen Reuchlins werden vor diesem Hintergrund jedoch deutlich überschätzt. Dies hat
meines Erachtens auch zur Folge, dass die juristische Leistung Reuchlins deutlich unterschätzt wird.
Die Juristerei mag zwar "nur" der Broterwerb Reuchlins gewesen sein. Und Brötchen hat sich Reuchlin durch die Juristerei sicherlich verdient und gewiß nicht wenige. Aber, und das tritt eben häufig in den Hintergrund, Reuchlin war ein hervorragender Jurist. Er war sicherlich – wie wir heute gerne formulieren
– ein Top-Jurist seiner Zeit. Vom Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zu einer gutachterlichen Stellungnahme aufgefordert zu werden, bedeutete, dass Reuchlin zu Lebzeiten einen hervorragenden Ruf hatte. Um einen solchen zu erwerben, mußte Reuchlin zunächst auch eine Menge leisten.

Reuchlin war Rechtspraktiker, kein Theoretiker. Theoretische Schriften Reuchlins zur Rechtswissenschaft sind zumindest nicht bekannt.

Nach dem Besuch der Pforzheimer Lateinschule verläßt Reuchlin als 15-jähriger seine Heimatstadt und
zog zum Studium nach Freiburg im Breisgau. An welcher Fakultät Reuchlin dort studierte ist nicht nachweisbar. 1474 schreibt sich Reuchlin an der Universität zu Basel in die Artistenfakultät ein und
erwirbt 1477 seinen Magister Artium. Nach einem kurzen Aufenthalt in Paris ging er nach Orléans
- eine der damals berühmtesten Universitäten in Frankreich -, um die Rechte zu studieren. Nach dem Erwerb des Bakkalar der Rechte im Jahr 1480 zog Reuchlin weiter nach Portiers. 1481 erhielt er dort
das Lizentiat und kehrte noch im selben Jahr nach Deutschland zurück, wo er sich in Tübingen einschrieb. Dort wurde er promoviert, womit damals regelmäßig die Lehrbefugnis verbunden war. Das genaue Datum der Promotion ist nicht nachweisbar. Aber bereits 1485 führte Reuchlin den Doktortitel.

Danach ging es beruflich steil aufwärts. Zunächst trat Reuchlin von 1483 bis 1495 als Rat in die Dienste der württembergischen Grafen. Die Aufgaben eines Rates an einem fürstlichen Hof waren vielfältig. Im wesentlichen war Reuchlin mit der Schlichtung von politisch und verfassungsrechtlich relevanten Streitigkeiten befaßt und vertrat seinen Landesherrn. Auch zahlreiche diplomatische Aufgaben wurden Reuchlin in diesem Amt übertragen.

Während dieser Zeit war Reuchlin auch als Beisitzer am württembergischen Hofgericht, als Beisitzer bei verschiedenen Schiedsgerichten sowie als württembergischer Anwalt tätig, wobei er hier die Interessen
der württembergischen Grafen vor Gericht vertrat. Außerdem war Reuchlin in zahlreichen Missionen als Gesandter und Diplomat für die württembergischen Grafen tätig. Eine besondere Auszeichnung Reuchlins war auch die Vertretung der württembergischen Grafen auf der Reichsversammlung von 1486.

Außerdem wurde Reuchlin als Beisitzer des Reichskammergerichts vorgeschlagen. Zu einer Berufung
kam es allerdings nicht.

Von 1497 bis 1499 war Reuchlin als Rat bei Kurfürst Philipp von der Pfalz in Heidelberg als Erzieher
der kurfürstlichen Söhne tätig. Außerdem vertrat er den Kurfürsten bei verschiedenen Streitigkeiten vor dem Papst.

Von 1499 bis 1517 war Reuchlin wieder als Rat für Herzog Ulrich von Württemberg tätig, dies
allerdings nur noch sporadisch.

1502 trat Reuchlin das hochdotierte Amt des Fürstenrichters des Schwäbischen Bundes an. Das Gericht des Schwäbischen Bundes diente hauptsächlich dazu, Streitigkeiten der Bundesmitglieder zu schlichten. Reuchlin ist bis 1513 mehrfach als Beisitzer nachgewiesen, weniger jedoch als verhandlungsführender Richter.

Für diese beachtliche juristische Karriere mußte Reuchlin schon eine gewisse Freude an der Juristerei gehabt haben. Alleine das Aneinandreihen von Paragraphen oder die Wiedergabe vorgefertigter Ansichten dürfte für einen solchen Erfolg wohl kaum ausgereicht haben. Ein Umstand, der übrigens sicherlich auch noch heute gilt.

Reuchlin war also juristisch eine Größe seiner Zeit. Durch die Beauftragung durch den Kaiser stand Reuchlin dann aber erst recht im Rampenlicht.

Damit Sie einen unmittelbaren Zugang zum Juristen Johannes Reuchlin finden, möchte ich im Folgenden weniger das historische Geschehen im Zusammenhang mit der gutachterlichen Stellungnahme Reuchlins betrachten. Vielmehr will ich im Folgenden das Gutachten Reuchlins näher untersuchen und so versuchen, zum einen die Motivationslage Reuchlins zu ermitteln und zum anderen Ihnen Reuchlins juristische Leistung näher bringen. Wir werden so den Juristen Reuchlin unmittelbar, also sozusagen bei der Arbeit, kennenlernen.

II. Der "Ratschlag"

Die kaiserliche Aufforderung zur Gutachtenerstellung war in deutscher Sprache abgefaßt, so dass Reuchlin auch sein Gutachten in deutsch verfaßte.

1. Formale Betrachtungen

a) Aufbau

Das Gutachten beginnt mit der Anrede des offiziellen Auftraggebers, der Mainzer Erzbischof Uriel von Gemmingen, gleichzeitig Kanzler des Kaisers. Gefolgt von der Wiederholung des zur Diskussion stehenden Problems sowie einer Bescheidenheits- und Gehorsamserklärung.

Das Gutachten selbst umfaßt 40 Seiten und läßt sich in 8 Abschnitte untergliedern:

1) Abschnitt 1 zählt die für Reuchlin erwähnenswerten Gründe für und gegen eine Bücherbeschlagnahme und -vernichtung auf.

2) In Abschnitt 2 werden die dem Autor bekannten sieben Arten jüdischer Schriften aufgelistet.

3) Abschnitt 3 bespricht den Talmud nach Entstehung, Gliederung und Zweck.

4) Abschnitt 4 befaßt sich mit der Verteidigung des Talmud.

5) In Abschnitt 5 werden die Kabbala, die Kommentare und Glossen zur Bibel, der Midrasch, Gebets- und Ritenbücher und philosophische Werke besprochen.

6) Abschnitt 6 faßt den Standpunkt des Gutachters zusammen und widerlegt die in Abschnitt 1 angeführten Gründe für eine Vernichtung jüdischer Bücher.

7) Abschnitt 7 enthält die zusammenfassende Aufzählung aller negativen Folgen, die aus der Vernichtung jüdischer Bücher entstehen könnten.

8) Abschnitt 8 schließlich verlangt die Einrichtung des Faches Hebräisch an den Universitäten.

Das Gutachten endet mit einer höflichen Anrede an den Empfänger. Außerdem betont Reuchlin seine Absicht, mit den Lehren der Kirche übereinzustimmen und sich gegebenenfalls ihrem Urteil willig zu unterwerfen. Diese Formel hatte vor allem den Zweck, später einsetzende Kritik gegenstandslos zu machen. Und das - wie wir sehen werden - nicht ganz ohne Erfolg.

Dieser Aufbau des Gutachtens läßt erkennen, dass die Abschnitte in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen. Dieses bewegt sich von den Enden zur Mitte des Gutachtens hin. So steht die Gehorsamsklausel am Beginn in Beziehung zur Unterwerfungsklausel am Ende; die anfangs wiederholte Fragestellung in Abschnitt 1 zur komprimierten Empfehlung in Abschnitt 8. Die in Abschnitt 1 angeführten Argumente für die Vernichtung jüdischer Bücher werden in Abschnitt 6 widerlegt; außerdem finden die in Abschnitt 2 aufgelisteten Arten jüdischer Bücher ihre Erörterung entsprechend dieser Auflistung in den Abschnitten 2 bis 5. Damit bleibt das Gutachten dem im Mittelalter heraus gebildeten Aufbauschema verhaftet.

b) Der Adressat - Kaiser Maximilian I.

Das Gutachten läßt an zahlreichen Stellen erkennen, wie deutlich der Empfänger, Kaiser Maximilian I.,
den Reuchlin von seiner diplomatischen Tätigkeit her persönlich kannte, dem Verfasser lebendig vor
Augen stand.

Der Kaiser war intellektuell äußerst vielseitig und wißbegierig. Er sprach sieben Sprachen und hatte eine besondere Vorliebe für die Geschichte. Diese Neigungen und Vorlieben berücksichtigt Reuchlin und bereitet seinem Leser sicherlich das ein oder andere Vergnügen.

So bietet er Worterklärungen aus den damals noch kaum bekannten Sprachen, dem Griechischen und
dem Hebräischen. Probleme des Übersetzens werden erörtert und historische Tatsachen werden berichtet. Er zitiert antike Philosophen wie Platon und Aristoteles, Gelehrte wie Pico della Mirandola und Kirchenväter wie Hieronymus und Augustinus. Durch das Anführen von alchimistischem Fachwissen, ergänzt durch ein Verzeichnis einschlägiger Literatur, trägt er dem Umstand Rechnung, daß Maximilian Unterricht in Alchimie genossen hatte.

Dabei läßt Reuchlin jedoch nie außer acht, daß sein Leser nicht ein Gelehrter, sondern ein vielbeschäftigter Kaiser ist. So kleidet er sein Wissen und seine Argumente in Anekdoten und kurzweilige Berichte. Es finden sich Scherze. Dem Oberbefehlshaber werden militärische Überlegungen und Redewendungen geboten. Dem leidenschaftlichen Liebhaber der Jagd werden die Freuden wissenschaftlichen Forschens durch einen entsprechenden Vergleich näher gebracht und es wird an sein ritterliches Ehrgefühl appelliert.

Nicht umsonst wählt Reuchlin neben der Alchimie die Mathematik als Beispiel, hatte doch Maximilian nur wenige Jahre zuvor der Wiener Universität ein Collegium mathematicum gestiftet.

In eine andere Richtung zielt der Hinweis auf Kaiser Friedrich III., "den Vater unseres allergnädigsten Herrn", auf den ersten Seiten des Gutachtens, noch vor der eigentlichen gutachterlichen Stellungnahme. Reuchlin will die Erinnerung an den weisen Kaiser wachrufen, an dessen Hof Juden gelebt und Achtung genossen hatten.

2. Inhaltliche Betrachtungen

Nun zur Argumentationsweise Reuchlins. Hierzu führt er in scholastischer Manier vier Gründe an, die
für eine Vernichtung des jüdischen Schrifttums sprechen:

Die hebräischen Schriften

1. seien gegen die Christen gerichtet,

2. beleidigten Jesus, Maria, die Apostel und den christlichen Glauben,

3. seien schlichtweg falsch und

4. hielten sie die Juden an ihrem Glauben fest und verhinderten ihre Bekehrung.

Diesen Argumenten stellt er sechs Thesen gegenüber, die für die Erhaltung des jüdischen Schrifttums sprechen:

1. These: Die Juden sind Untertanen des Heiligen Römischen Reichs und unterstehen kaiserlichem Recht, damit sind sie wie die Christen als "cives romani" Teil des "populus Romanus". Als Rechtsquelle zitiert Reuchlin eine Stelle aus dem Codex Iustinianus (C.1.9.8). Hierbei handelt es sich um ein zentrales Argument, dessen Übereinstimmung mit der damals vorherrschenden juristischen Ansicht ich nachfolgend näher untersuchen möchte.

2. und 3. These: Diese rechtliche Gleichstellung der Juden bewirke nach römischem Recht den Schutz
ihres Besitzes. "Das was uns gehört, kann ohne unser Zutun nicht auf einen Anderen übertragen werden" (D.50.17.11).

4. und 5. These: Dem entspreche – so Reuchlin - auch der Satz des kanonischen Rechts, der jedem
seine alten Gewohnheiten, Sitten und Besitztümer garantiere.

6. These: Während die fünf vorhergehenden Thesen durch entsprechende Rechtssätze belegt werden,
kann Reuchlin bei seinem 6. Einwand, keine Belege anführen. Die 6. These lautet: Hebräische Bücher
seien bislang weder vom geistlichen noch vom weltlichen Recht verworfen worden.

Nach dieser Gegenüberstellung des Pro und Contra wird ein Bibelzitat, das Gleichnis von Unkraut und Weizen, das nicht gemeinsam ausgerissen werden solle, als Grundlage der Argumentation eingeführt.

Erst anschließend wird der Diskussionsgegenstand systematisch in sieben Büchersorten unterteilt: die
Bibel, der Talmud, die Kabbala, Kommentare und Glossen, Predigten und Disputationen, philosophisch-wissenschaftliche Literatur, schließlich Poesie, Fabeln, Polemik, Exempel.

1) Die Argumentation Reuchlin beginnt mit Ausführungen zu jüdischen Schmähschriften. Reuchlin ordnet diese der siebten Gruppe zu und grenzt dabei den Pauschalvorwurf der Blasphemie auf einen kleinen Teil von Schriften ein, die er aus eigener Anschauung kennt und beurteilen kann.

Er rechtfertigt deren Verbrennung mit Hinweis auf eine Digestenstelle (D.47.10.5,9), die besagt, daß der Verfasser beleidigender Schriften mit Strafe belegt werden darf: "Wer eine Schrift zur Verleumdung jemandes geschrieben, zusammengesetzt oder öffentlich ausgegeben,... hat, der wird laut Vorschrift
dieses Gesetzes"
mit Strafe belegt.

2) Vom schwächsten Punkt der Argumentation – den Schmähschriften - wendet sich das Gutachten dem stärksten Gegensatz zu: dem Alten Testament. Dieses war jedoch wegen seiner Aufnahme in den christlichen Kanon schon in der kaiserlichen Verfügung von den geplanten Maßnahmen ausgenommen worden.

3) Der Schwerpunkt der Argumentation liegt auf der Verteidigung des Talmud. Reuchlin definiert den Talmud als eine Sammlung der Lehre von allen Geboten Gottes, aufgeteilt in Theologie, Staatsrecht, kirchliches Recht und Medizin, die zusammengefaßt wurden, um die Weisheit und Kenntnisse der alten jüdischen Lehrer zu bewahren und sich der Andersgläubigen im Disput besser erwehren zu können.

Die nun folgende Beweisführung gliedert sich in 3 Kapitel, deren Thema er jeweils mit einleitenden Bibelzitaten umreißt.

a) Dem ersten Kapitel stellt er das Pauluswort aus dem Korintherbrief voran: Es muß Aberglauben und Irrtum geben, um die Rechtgläubigen zu erproben und offenbar werden zu lassen.

Reuchlin führt hier ein wissenschaftliches Argument zur Erhaltung des Talmud ein: was unbekannt ist, kann nicht beurteilt, geschweige denn verurteilt werden.

b) Das zweite Kapitel zur Verteidigung des Talmud beginnt Reuchlin mit der Aufforderung Jesu im Johannesevangelium: "...erforschet die Schriften, insofern ihr wähnet, darin das ewige Leben zu finden. Eben diese sind es, die von mir Zeugnis geben." Dies ist - wie wir noch sehen werden - eine entscheidende Stelle in der Argumentation Reuchlins.

c) Das dritte Kapitel geht vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen in der Genesis aus und verbindet diese Stelle mit dem Verbot aus dem Deuteronomium, fruchttragende Bäume zu fällen. Auch an dieser Stelle wird die übergeordnete Bedeutung der Bibelzitate als Kernstück der Argumentation deutlich.

Bis hierher hat Reuchlin in seinem Gutachten alle vier Argumentationslinien entwickelt:

(1) Den juristischen Komplex in Form kaiserlichen und kanonischen Rechts.

(2) Den theologischen Komplex, der sich zunächst auf das Neue Testament stützt, das später durch das Alte Testament, den Papst und die Autorität der Kirche ergänzt wird.

(3) Den dritten Komplex, das wissenschaftliche Argument, führt Reuchlin in der Beweisführung zur Bewahrung des Talmud ein.

(4) In seinem vierten und letzten Komplex stellt Reuchlin auf die Eigenverantwortlichkeit des Menschen, der Gut und Böse erst durch den Gebrauch der Dinge selbst erschaffe, ab. Dieses Argument, im Schlechten auch das Gute zu suchen, wird durch weitere Bezüge auf das Alte Testament unterstützt: So hätte auch König Salomo von schlechten und heidnischen Lehren Gutes gelernt. Wörtliche Zitate aus dem Decretum Gratiani decken die rechtliche Seite ab und verlangen die geistige Auseinandersetzung mit dem Schlechten, um darin das Gute zu entdecken.

4) Nach dieser doch eher aufwändigen Argumentation zur Erhaltung des Talmud wendet sich Reuchlin der Erhaltung der Kabbala als 4. Bücherkategorie zu. Die Kabbala enthält für Reuchlin "die haimlichhait der reden und wörter Gottes". Für den Erhalt der Kabbala beruft sich Reuchlin auf die Geschichte und verweist auf von verschiedenen Päpsten getroffene Entscheidungen zugunsten der Kabbala, da auch sie Wahrheiten des christlichen Glaubens enthielte.

5) Bei den jüdischen Kommentaren und Glossen zur Bibel als 5. Bücherkategorie kommt der wissenschaftliche Argumentationspfeiler zum Tragen. Reuchlin betont insoweit, dass diese einzigartigen philologischen Quellen für die Erkenntnis der biblischen Wahrheit zu nutzen seien. Er bezieht sich hierbei auf eine Stelle aus dem Decretum Gratiani (Distinctum 9, capitel 6), die besagt, "daß der Glaubensinhalt der Bücher des alten Testaments aus dem hebräischen Urtext erfaßt werden müsse".

6) Bei den Gebets- und Ritenbüchern der Juden als 6. Bücherkategorie steht für deren Erhalt das juristische Argument des Rechtsschutzes der von den christlichen Riten abweichenden Riten im Vordergrund. Er zieht im wesentlichen eine Stelle aus dem Codex (C.1.9.11) heran: "..., sondern (die Rectoren) haben dafür zu sorgen, daß die Juden, ohne der christlichen Kirche zu nahe zu treten, ihre Gebräuche beibehalten, weil sie bei Nichtbeachtung dieses Verbots auch der ihnen bisher zugestandenen Rechte verlustig gehen werden."

7) Die philosophischen Werke als 7. Bücherkategorie will Reuchlin mit dem Hinweis auf vergleichbare griechische, lateinische und deutsche Schriften durch den juristischen Grundsatz, "Was nicht verboten ist, ist erlaubt", schützen.

Abschließend spricht er sich für den umfassenden Erhalt jüdischer Bücher aus und findet so einen Übergang zum nachfolgenden Abschnitt, der die Widerlegung der anfangs aufgezählten für die Vernichtung sprechenden Gründe zum Ziel hat.

1) Dem ersten Einwand, die Schriften der Juden seien gegen die Christen verfaßt, setzt Reuchlin zweierlei entgegen. Zum einen seien sie bereits vor Christi Geburt verfaßt worden. Zum anderen stellt er die juristische Komponente in den Vordergrund und proklamiert das Recht auf Selbstverteidigung. Er erklärt, die jüdischen Schriften seien ausschließlich zur Bewahrung des jüdischen Glaubens niedergeschrieben worden. An dieser Stelle klingt so etwas wie ein übergeordnetes Recht auf Selbstverteidigung an. Eine Art Menschenrecht als Naturrecht. Er proklamiert eine Gleichberechtigung, die sich nicht damit begnügt, eine rechtliche Gleichbehandlung zu verlangen, sondern jedem einzelnen einen Anspruch auf persönliche Entwicklung und Entfaltung zugesteht.

2) Das zweite Argument für eine Vernichtung, die jüdischen Bücher beschimpften Jesus, Maria, die Apostel und den christlichen Glauben, entkräftet Reuchlin mit dem Hinweis, ihm seien nur zwei solcher Schriften bekannt, deren Verbrennung er rechtfertige. In den übrigen Schriften kann Reuchlin keine Beschimpfung entdecken und führt ein juristisches, theologisches und historisches Argument zur Begründung an.

3) Dem dritten Argument für eine Vernichtung, die hebräischen Bücher lehrten Falsches, setzt Reuchlin eine Begriffsbestimmung "falscher Text" entgegen.

Zum ersten sei falsch ein fehlerhaft geschriebener Text, den man, anstatt zu verbrennen, besser korrigieren und verbessern sollte. Zweitens sei ein falscher Text auch ein für unwahr gehaltener, was jedoch Glaubenssache und daher nicht strafbar sei. Drittens, so Reuchlin, werde ein vorsätzlich gefälschter Text, der die Wahrheit zum Schaden eines anderen unterdrücke, falsch genannt.

Reuchlin betont zum einen die philologische Qualität und Authentizität jüdischer Bücher. Er beschreibt die Sorgfalt und Gründlichkeit der Juden bei deren Untersuchung und führt so den Vorwurf, sie hätten ihre Schriften vorsätzlich verfälscht, um die Christen zu täuschen, ad absurdum. Außerdem sei sogar im kanonischen Recht der Grundsatz verankert, in Zweifelsfällen die jüdischen Texte als Quelle des Alten Testaments heranzuziehen.

4) Das vierte Argument für eine Vernichtung lautete, daß die Juden nur wegen ihrer Bücher in ihrem Glauben verharrten und nicht Christen werden wollten. Diesem Argument setzt Reuchlin eine Kombination aus theologischer, wissenschaftlicher und juristischer Argumentation entgegen.

Es folgt der vorletzte Abschnitt der Beweisführung, in dem Reuchlin auf die Nachteile hinweist, die dem christlichen Glauben durch die Vernichtung hebräischer Literatur entstünden. Die wesentlichen Nachteile lauten:

1. Die Juden könnten Neues und weitaus Schlimmeres verfassen.
2. Durch die fehlende Auseinandersetzung mit Andersgläubigen würden sich die Christen entzweien und befehden.
3. Die Vernichtung jüdischer Schriften in Deutschland wäre nutzlos, denn sie könnten sie in anderen Ländern ungehindert studieren.

Abschließend greift er nochmals auf den Schutz jüdischen Besitzes zurück und nimmt zur Frage der Zwangsbekehrung Stellung. Er äußert sich ablehnend und dürfte damit wohl der vorherrschenden Meinung seiner Zeit entsprochen haben, die Zwangstaufen und -predigten wider die "natürliche Gerechtigkeit" ablehnten.

Er kommt zum Schluß: Die Wegnahme der Bücher mit dem Ziel, die Juden zum Christentum zu bekehren, käme einem Glaubenszwang gleich, der nach dem Decretum Gratiani (Distinctum 45, capitel 3) verboten sei.

Nach dieser Argumentation unterbreitet Reuchlin Kaiser Maximilian I. den Ratschlag, an jeder deutschen Universität das Fach Hebräisch einzurichten und dafür je 2 Dozenten einzustellen. Auf diese Weise sollten ausreichend Gelehrte herangezogen werden, die befähigt seien, die Juden in vernünftiger Argumentation zum christlichen Glauben zu bekehren. Die Wichtigkeit dieses Anliegens unterstreicht er mit wörtlichen Zitaten aus dem kanonischen Recht, das die Einrichtung hebräischer Lehrstühle und die Bekehrung Andersgläubiger mit "Vernunftgründen und Sanftmut" vorschreibe.

3. Die Argumentation Reuchlins im Gutachten

Wenden wir uns nun der Argumentation Reuchlins im Gutachten zu:

a) Juristische Argumentation Reuchlins

Da das Gutachten von Reuchlin ausdrücklich "als Lehrer der Recht" angefordert wurde, ist es geradezu zwingend, dass er sich bei der Begründung seiner Thesen stets - wenn auch nicht ausschließlich - auf den Rechtsstandpunkt stellt und für diesen römische und kanonische Rechtsquellen sowie die dazugehörigen Glossen und Kommentare anführt.

So enthält die Beweisführung im Ratschlag 32 Hinweise auf das römische und 46 auf das kanonische Recht. Es ergibt sich somit ein deutlich überwiegender Anteil kanonischer Rechtsquellen. 17 Stellen werden durch eine Glosse erläutert und ergänzt. 6 Zitate beziehen sich auf die Glossen von Bartolus de Saxoferratis und Baldus de Ubaldis, denen zu Zeiten Reuchlins größte Autorität unter den Konsiliatoren zukam. Im Gutachten werden sie daher häufig zitiert, um so Gewähr für die Richtigkeit der jeweils vertretenen Rechtsansicht zu leisten.

Trotzdem hat Reuchlin neben dem römischen und kanonischen Recht auch die alten Gewohnheiten und fürstlichen Satzungen nicht außer acht gelassen. Schon in den Thesen am Beginn seines "Ratschlags" nimmt er auf "alten herkommen Brauch" Bezug.

Geht man den von Reuchlin zitierten Gesetzestexten und der Kommentarliteratur nach, so ist zu erkennen, dass er die römischen und kirchlichen Rechtsbücher sowie die Kommentarliteratur sehr genau kannte und mit ihnen überaus vertraut war. Die verwendeten Zitate sind präzise angeführt und treffen den Sachverhalt exakt. Sie werden nicht etwa, wie zur damaligen Zeit durchaus üblich, nur zu Dekorationszwecken als Ausschmückung der Anmerkungen oder zur Belegung von Selbstverständlichem verwendet. Reuchlin ist im Gegenteil geradezu sparsam und zieht meist nur eine Allegation als Beleg heran. Diese Vorgehensweise zeigt insoweit deutliche Bezugspunkte zur humanistischen Jurisprudenz.

In Reuchlins Gutachten kommt im Rahmen seiner juristischen Argumentation der Mitbürgerschaft der Juden entscheidende Bedeutung zu. Aus dem Bürgerstatus der Juden ergibt sich für Reuchlin die rechtliche Bewertung der jüdischen Schriften nach römischem Recht.

b) Juristen seiner Zeit

Betrachtet man Äußerungen von Juristen seiner Zeit, so ist zu erkennen, dass sich Reuchlin im Gutachten durchaus im Rahmen herkömmlicher juristischer Argumentation bewegt hat.

Dessen ungeachtet wird in der wissenschaftlichen Literatur vertreten, dass Reuchlin in seinem Gutachten versucht habe, dem vormittelalterlichen Recht zur Geltung verhelfen zu wollen und das spätantike Judenrecht des Corpus Iuris Civilis zu Reuchlins Zeit keine Geltung mehr beanspruchen durfte. Damit würde Reuchlin im Gutachten letztlich einer Diskussion der tatsächlichen Rechtslage der Juden im Spätmittelalter ausweichen.

Das trifft meines Erachtens nicht zu. Zu beachten ist, dass bis in das 16. Jahrhundert hinein in Deutschland wenig juristische Literatur entstanden ist, die die Rechtsstellung der Juden definierte. Folglich griffen die deutschen Juristen seiner Zeit auf die in Italien entstandene und sich in Deutschland rasch verbreitende juristische Literatur zurück. Dort wurde aber als deutlich vorherrschende Auffassung vertreten, dass Juden mit Christen Handel führen und Umgang pflegen dürften und Juden nach dem geltenden römischen Recht lebten und als "cives" zu gelten hätten. Diese Rechtsauffassung und die Anwendung des Ius Civile auf die Juden im Spätmittelalter waren unter den bedeutenden italienischen Juristen also durchaus üblich.

Diese weit vorherrschende Argumentation hat sich Reuchlin in seinem Gutachten zu eigen gemacht. Reuchlin bezeichnet die Juden in seiner zentralen juristischen Argumentation als Untertanen des Heiligen Römischen Reichs, wodurch sie kaiserlichem Recht unterstünden. Damit seien sie wie die Christen als "cives romani" Teil des "populus Romanus".

Allerdings sollte die Auffassung zur Rechtsstellung der Juden nach dem damals geltenden kanonischen, also des geistlichen Rechts nicht unberücksichtigt bleiben. Das kanonische Recht postulierte im Spätmittelalter den Sklavenstatus der Juden, der mit völliger Rechtlosigkeit verbunden war. Folglich sollte nach kanonischem Recht auch der Schutz des römischen, also des weltlichen Rechts nicht für Juden gelten. Allerdings spielte das kanonische Recht für die damalig vorherrschende juristische Lehrmeinung zum Rechtsstatus der Juden kaum eine Rolle. Die Rechtsstellung der Juden richtete sich nach weitgehend überwiegender Ansicht ausschließlich nach weltlichem Recht des Ius Civile.

Die Bezeichnung der Juden als "cives" und die Gewährung des Schutzes des römischen Rechts durch Reuchlin stellt insofern keine juristische Neubestimmung der Rechtsstellung der Juden dar. Reuchlin vertrat in seinem Gutachten die vorherrschende juristische Ansicht seiner Zeit. Er kehrt nicht zum Rechtsstandpunkt des klassischen römischen Rechts der Antike zurück und machte sich insoweit auch nicht bewußt angreifbar, wie es häufig in der Literatur vertreten wird.

Wir haben gesehen, die juristische Argumentation Reuchlins war exakt und zutreffend. Neues hat sie allerdings nicht gebracht.

c) Theologische Argumentation

Ganz anders jedoch seine theologische Argumentation im Gutachten. Neben den Rechtsquellen stützt er seine Beweisführung an den entscheidenden Stellen immer wieder mit Zitaten aus der Bibel. Den 78 Quellen aus dem römischen und kanonischen Recht stehen im Gutachten 44 Hinweise auf die Bibel, davon 26 aus dem Neuen Testament, gegenüber. Wobei Reuchlin die Rechtsbelege nicht nur einfach mit biblischen Bezügen verbindet, sondern diese sie umrahmen und in den Teilen, die als Angelpunkte seiner Argumentation zu gelten haben, entscheidende Bedeutung erhalten, den Rechtsquellen zum Teil sogar übergeordnet werden.

Offenbar ist es Reuchlin bei der Frage der Behandlung der Juden nicht nur äußerst wichtig, die Harmonie römischen und kanonischen Rechts aufzuzeigen, sondern zugleich deren vollständige Übereinstimmung mit den Aussagen der Bibel und des Evangeliums darzulegen.

Darüber hinaus weist das Gutachten an 22 Stellen Bezüge auf die Kirchenväter auf. Sich auf sie zu beziehen und als Streiter für die eigene Sache zu gebrauchen, hatte den Vorteil, daß sie sich durch Rechtgläubigkeit der Lehre, Heiligkeit des Lebens, hervorragende wissenschaftliche Leistungen und vor allem einer ausdrücklichen Anerkennung durch die Kirche auszeichnen.

Reuchlin selbst bezeichnet eine Stelle aus dem Johannesevangelium sogar als Hauptargument in seinem Gutachten. Er übersetzt das Evangelium direkt aus dem Griechischen, so dass es lautet: "...erforschet die Schriften, insofern ihr wähnet, darin das ewige Leben zu finden. Eben diese sind es, die von mir Zeugnis geben."

In einer eingehenden semantisch-textkritischen Untersuchung versucht er nachzuweisen, daß Jesus hier nicht die heilige Schrift, sondern die rabbinischen Traditionen gemeint habe, die dann zum Talmud zusammengefaßt wurden. Reuchlin legt dar, dass auch die talmudschen Schriften von Jesus zeugten und daher mit aufmerksamem Sinn erforscht und ihre Ungereimtheiten aufgedeckt werden müßten, um so die Wahrheit des christlichen Glaubens deutlich herauszustellen und das ewige Leben zu gewinnen.

Reuchlin kommt zu diesem Ergebnis, indem er auf den griechischen Urtext der Bibelstelle zurückgeht und die vorherrschende mittelalterlich-scholastische Auslegung dieser Bibelstelle außer Acht läßt. Reuchlin verwendet hier eine neue philologische Methode, die zu einem neuen theologischen Verständnis der Bibelstellen führen und das Ergebnis seiner gutachterlichen Überlegungen entscheidend bestimmen wird. Reuchlin weicht hier meines Erachtens bewußt mittels seiner philologisch-grammatischen Methode bei der Auslegung biblischer Texte von der bisherigen mittelalterlichen Tradition der Bibelauslegung ab. Hier liegt das eigentlich Neue der Argumentation Reuchlins, die Herleitung der Bibelübersetzung aus den ursprünglichen hebräischen und griechischen Urtexten. Hier steht Reuchlin weitgehend allein und macht sich - wohl bewußt - angreifbar, wie es das nachfolgende historische Geschehen dann allzu deutlich zeigen sollte.

Aufgrund der besonderen Bedeutung der Bibelzitate in der Argumentation Reuchlins wird die Ansicht vertreten, Reuchlin habe weniger ein juristisches, sondern vielmehr ein theologisches Gutachten verfaßt. Dem ist jedoch - wie die neuere Forschung zeigt - nicht zuzustimmen. Bei Rechtsproblemen, die in einem engen Zusammenhang mit theologischen Fragen stehen, werden im Spätmittelalter üblicherweise neben juristischen Texten Bibelstellen und Belege der Kirchenväter als gleichwertig herangezogen. Die Vorgehensweise Reuchlins ist insofern keine Seltenheit. Außerdem konkretisiert Reuchlin schon zu Beginn seines Gutachtens die zu klärende Frage, ob den Juden "von rechts wegen" ihre Bücher weggenommen werden dürfen und stellt damit klar, dass er ein Rechtsgutachten verfaßt.

d) Wissenschaftliche Argumentation

Aus der revolutionären theologischen Argumentation Reuchlins folgt zwangsläufig auch ein neuer wissenschaftlicher Argumentationsansatz. Reuchlin führt an, daß eine wörtliche Exegese der Bibel ohne eine allegorisch-symbolische Auslegungsmethode nicht auskomme. Er dehnt dieses Argument auf den Talmud aus im Sinne einer Gleichberechtigung aller Bücher vor der wissenschaftlichen Methodik und fordert so eine eigenverantwortliche Auseinandersetzung mit dem jüdischen Schrifttum. So gehörte es zum Beispiel für Reuchlin zur Freiheit eines Gelehrten, die von ihm erkannten Wahrheiten zum Schutz vor Mißbrauch durch Ungebildete in verschlüsselter Form weiterzugeben. Folglich durfte dies der jüdischen Bildungstradition nicht zum Vorwurf gemacht werden.

Nach einer exakten juristischen Absicherung seiner Thesen wird das theologische und wissenschaftliche Argument zu einem tragenden Element seines Gutachtens, das dann zwingend in der Forderung gipfelt: Die jüdische Literatur solle durch fundierte und gewissenhafte Erarbeitung für das Christentum und die Bekehrung der Juden nutzbar gemacht werden. Die theologische und wissenschaftliche These wird im Verlauf des "Ratschlags" ausgebaut, um schließlich in der Proklamation der Eigenverantwortlichkeit des Menschen zu gipfeln.

Diese These untermauernd zieht Reuchlin am Ende seines Gutachtens drei Quellen aus dem kanonischen Recht heran, die die Lehre der hebräischen Sprache und das Verbot des Bekehrungszwangs festschreiben.

Wir haben also gesehen, dass sich die juristische Argumentation Reuchlins durchaus im Rahmen des damals Üblichen bewegte. Das wesentlich Neue lag jedoch in der theologisch wissenschaftlichen Argumentation Reuchlins.

III. Motive und Hintergründe

In diesem Zusammenhang stellt sich noch die Frage, warum Reuchlin in seinem Gutachten zu einem solchen, den Juden günstigen Ergebnis kam und welche Motive Reuchlin bewegten. Hierzu werden in der Literatur verschiedene Ansichten vertreten.

a) Teilweise wird das Motiv seines Engagements allein in der Begeisterung für die redliche wissenschaftliche Forschung und in seiner Liebe zur Kabbala als göttliche Uroffenbarung gesehen (Geiger).

b) Andere wollen das Motiv in Reuchlins vom Humanismus geprägter Rechtsauffassung finden und in dessen Überzeugung von der Zugehörigkeit der hebräischen Literatur zum europäischen Kulturerbe (Maurer).

c) Wiederum andere vertreten die Ansicht, daß die Kritik an der vorschnellen und pauschalen Verwerfung von Inhalten, deren Bedeutung für den christlichen Glauben sich erst aus dem Pro und Contra ergebe, im Vordergrund stehe (Kirn). Hier wird folglich das humanistisch wissenschaftliche Verständnis Reuchlins in den Vordergrund gestellt.

d) Trusen lehnt ebenfalls eine ausschließlich rechtliche Motivation ab, indem er auf eine später gemachte Äußerung Reuchlins hinweist, er habe nur "auf Überredung hin", also nach Advokatenart argumentiert. Er sieht die wahre Motivation in der Philologie, in der Liebe zum Wort, das in der Sprache Gottes geschrieben ist und in dem gewissermaßen eine zweite Offenbarung Gottes zum Ausdruck kommt.

e) Lotter will dagegen Ansätze eines neuen Wissenschaftsverständnisses erkennen, das eine genaue Kenntnis, eine unbeschränkte Möglichkeit der Information und eine Auseinandersetzung mit den gegnerischen Argumenten voraussetzt, aber ebenso, dass falsche Ansichten nicht durch autoritäre Entscheidung, sondern nur in offener Diskussion beseitigt werden könnten.

f) Meines Erachtens führte im wesentlichen die exakte juristische Argumentation unter Berücksichtigung der damals vorherrschenden juristischen Meinung zu dem für die Juden günstigen Ergebnis (so Ackermann). Reuchlin geht juristisch nicht über die übliche Argumentation hinaus. Dies ist auch nicht erforderlich, um zu dem von Reuchlin vertretenen Standpunkt zu gelangen. Allenfalls in der theologisch wissenschaftlichen Argumentation geht Reuchlin neue Wege. Damit hängt auch - wie gezeigt - ein exakt wissenschaftlich philologischer Umgang mit hebräischen und griechischen Urtexten zusammen. Eine hieraus abzuleitende tolerante Einstellung oder gar ein besonderer Gerechtigkeitssinn gegenüber Juden ist nicht zu erkennen. Auch hat Reuchlin keine theologische Neubestimmung des Judenstatus angestrebt. Meines Erachtens kommt es Reuchlin im wesentlichen auf einen exakten wissenschaftlich philologischen Umgang mit hebräischen und griechischen Urtexten an.

III. Der Streit um das Gutachten

Genau dieses dürfte auch zu der nachfolgenden heftigen juristischen Auseinandersetzung um das Gutachten Reuchlins geführt haben. Denn im Ergebnis wichen die vom Kaiser angeforderten Gutachten im wesentlichen nicht von Reuchlins Stellungnahme ab. In allen Gutachten wird eine Untersuchung des jüdischen Schrifttums befürwortet, die einer etwaigen Vernichtung voraus gehen müßte. Nur hinsichtlich des Talmud wird in den anderen Gutachten einhellig eine Vernichtung empfohlen.

Nach Übersendung des Gutachtens an den Kaiser geriet Reuchlin in einen Streit mit Johannes Pfefferkorn, dessen Buch "Der Juden veindt" Reuchlin in seinem Gutachten direkt herangezogen und zahlreiche Fehler nachgewiesen hatte.

Folglich fühlte sich Pfefferkorn durch die gutachterliche Stellungnahme Reuchlins persönlich angegriffen und holt zum Gegenangriff in seinem "Handspiegel" von 1511 aus. Hierauf erwiderte Reuchlin in seinem "Augenspiegel" vom Herbst 1511, in dem er nicht nur Pfefferkorn wiederum persönlich angriff und herabsetzte, sondern den Angriff auch noch auf die Theologen der Kölner Universität, die ebenfalls ein kaiserliches Gutachten zur Enteignung jüdischer Schriften erstellt hatten, ausweitete. Auf weitere Angriffe aus Köln und von Pfefferkorn hin verfaßte Reuchlin 1513 seine "Defensio" als eine an den Kaiser gerichtete Rechtfertigung und Klage gegen die Kölner Theologen.

Es kam folglich zu einem ständigen juristischen Hin und Her bis der Dominikanerprovinzial der Teutonia als Inquisitor der Mainzer Kirchenprovinz 1513 gegen den "Augenspiegel" einen Ketzerprozeß einleitete. Interessant ist, dass die Inquisition sich nicht gegen die Person, sondern nur gegen den Augenspiegel Reuchlins richtete. Reuchlin hatte sich nicht nur in seinem Gutachten, sondern auch in der folgenden Auseinandersetzung ausdrücklich den Lehren der Katholischen Kirche unterworfen, wodurch ein Ketzerprozess gegen seine Person ausgeschlossen war.

Auffällig ist, dass im Laufe dieses Inquisitionsprozesses Reuchlins Methode der Bibelexegese mit dem Rückgriff auf die griechischen und hebräischen Originaltexte einen wesentlichen Vorwurf darstellte. Reuchlins Versuch, zu einem neuen Bibelverständnis zu gelangen, wurde als Herabwürdigung der kirchlichen Autoren des Mittelalters verstanden. Dies ist ein weiterer Hinweis, dass im theologisch wissenschaftlichen Ansatz Reuchlins das wirklich Neue seiner Argumentation liegt.

Dieser Inquistionsprozess endete zugunsten Reuchlins. Durch bischöfliches Urteil wurde am 24. April 1514 entschieden, dass der Augenspiegel Reuchlins keine ketzerischen Aussagen und Irrtümer enthalte, die Juden nicht begünstigt und auch die Kirche und ihre Lehrer nicht verächtlich gemacht würden.

Gegen dieses Urteil apellierte der nun unterlegene Inquisitor an den Apostolischen Stuhl in Rom. Es begann ein langwieriges und schwieriges Verfahren, das ich hier im Einzelnen nicht darstellen kann. Das päpstliche Endurteil jedenfalls erklärte das bischöfliche Urteil von 1514 für nichtig und verbot die weitere Verbreitung des Augenspiegels. Reuchlin wurde Stillschweigen auferlegt. Interessant ist, dass hierbei der Augenspiegel Reuchlins zwar als eine die Juden begünstigende Schrift eingestuft, jedoch nicht als ketzerisch verurteilt wurde. Wesentlicher Einfluß auf dieses päpstliche Urteil dürfte sicherlich das Geschehen um Martin Luther und die Reformation in Deutschland gehabt haben.

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