LÖBLICHE SINGERGESELLSCHAFT
VON 1501
PFORZHEIM


Johannes Reuchlin – Philologe, Jurist, Humanist und Streiter wider die Dunkelmänner“.

Vortrag
Dr. Stefan Pätzold, Wissenschaftlicher Archivar im Stadtarchiv Pforzheim
anlässlich der Matinee zur Stadtgeschichte im Reuchlinjahr 2005 am 27.02.2005

 
Vortrag

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

um es Ihnen gleich rundheraus zu sagen: Ich habe das Thema meines Vortrages gegenüber der Ankündigung geändert. Angekündigt war ein Referat unter dem Titel „Anno domini millesimo quadringentesimo quinquagesimo quinto [das heißt: 1455]. Pforzheim, Württemberg und das Reich im Geburtsjahr des Johannes Reuchlin“. Der Vortrag sollte einen querschnittsartigen Überblick über die politischen, sozialen, kirchlichen und wissenschaftlichen Zustände um die Mitte des 15. Jahrhunderts bieten. Von Reuchlin selbst wäre dabei freilich kaum die Rede gewesen.

So war es geplant! Inzwischen liegen aber beeindruckende und umfangreiche Veranstaltungsprogramme der Löblichen Singergesellschaft und der Stadt Pforzheim vor: Zahlreiche Vorträge werden in den kommenden Monaten alle nur denkbaren Aspekte von Reuchlins Leben und Werk behandeln. Da bietet es sich nun an, den Schwerpunkt meiner relativ weit vorne in der Reihe der Referate stehenden Ausführungen zu verlagern und Reuchlin selbst in den Mittelpunkt der Betrachtungen zu rücken. Auf diese Weise ist es möglich, ein Raster für die Einordnung der vielfältigen Informationen und damit eine solide Grundlage für den Besuch der folgenden Veranstaltungen zu schaffen – Grund genug, wie ich meine, meinen Themenschwerpunkt zu verlagern.

Das Thema des neuen Vortrages lautet deshalb: „Johannes Reuchlin – Philologe, Jurist, Humanist und Streiter wider die Dunkelmänner“. Die Vita unseres Helden soll dabei nun aber nicht chronologisch abgehandelt werden. Vielmehr sollen einzelne Themenkomplexe seines Lebens herausgegriffen werden: In einem ersten Abschnitt werden dann jeweils die Daten und Fakten und in einem zweiten die nötigen Erläuterungen geboten. Es sind vier Aspekte, die ich hier behandele: 1.) „Reuchlins Bildungsweg von der Pforzheimer Lateinschule zum Tübinger Doktorat“; 2.) „Der Jurist in den Diensten des württembergischen und des pfälzischen Hofes“; 3.) „Der Philologe und Humanist: Vom Präzeptor zum Professor“; und schließlich 4.) „Der Streiter wider die Dunkelmänner: Der Hebraist und die katholische Kirche“. Nun aber genug der Vorrede: Vorhang auf für den Hauptakteur!

I.)

Johannes Reuchlin wurde am 29. Januar 1455 in Pforzheim geboren. Seine Eltern waren der Verwalter des dortigen Dominikanerklosters, Georg Reuchlin, und dessen Ehefrau Elisabeth. In Pforzheim begann auch Johannes’ beeindruckender Bildungsweg. Die Stationen dieses über 14 Jahre dauernden Kursus sind in der folgenden Übersicht zusammengestellt:

1.) Reuchlins Bildungsweg von der Pforzheimer Lateinschule zum Tübinger Doktorat

  • Vor 1470: Besuch der Pforzheimer Lateinschule.
  • 19.5.1470: Immatrikulation an der Universität Freiburg im Breisgau, Beginn des
    Studiums der Artes liberales.
  • 1473/74: Studienaufenthalt in Paris als Präzeptor Friedrichs von Baden.
  • 1474: Immatrikulation an der Universität Basel.
  • Sept. 1474: Promotion zum Baccalarius (Baccalaureus) artium in Basel.
  • 1477: Promotion zum Magister artium in Basel.
  • 1478: Griechischstudien in Paris, vielleicht auch schon Rechtsstudien.
  • Jan. 1479: Studium des römischen Rechts an der Univ. Orléans. .
  • Um 1480: Promotion zum Baccalarius (Baccalaureus) legum in Orléans.
  • 1480/81: Immatrikulation an der Universität Poitiers.
  • 14.6.1481: Erwerb der Licentia legum (Lizentiat im sog. Kaiserlichen Recht) in Poitiers.
  • 1481/1482: Immatrikulation an der Universität Tübingen, Abhaltung von Vorlesungen.
  • 1484 o. 85: Promotion zum Doctor iuris civilis.

Die Übersicht zeigt, daß Reuchlin den gesamten Weg universitärer Bildung seiner Zeit zurückgelegt hat: Er schloß das Artes-Studium mit dem Magistergrad ebenso ab wie das Studium des weltlichen, also des Zivilrechts mit der Erlangung des Lizentiats, und damit der Berechtigung, selbständig Vorlesungen abzuhalten. Gekrönt wurde Reuchlins Laufbahn mit dem Doktorat.

Trotz seiner glänzenden universitären Ausbildung verfolgte Reuchlin diesen Weg, den Weg einer akademischen Laufbahn nicht weiter. Vielmehr trat der Jurist noch vor seiner Doktorpromotion in den Dienst des württembergischen Landesherrn, des Grafen Eberhard im Bart.

2. Der Jurist in den Diensten des württembergischen und des pfälzischen Hofes

  • 1482: Eintritt in den Dienst des Grafen Eberhard im Bart; in dessen Gefolge
    Reise nach Rom zu Verhandlungen mit Papst Sixtus IV.
  • 1483: Reuchlin wird erstmals als Eberhards Rat erwähnt; seitdem mehrfach
    Reisen in landesherrlicher Mission und wiederholt Beisitzer am württembergischen Hofgericht.
  • 1492: Verhandlungen am Hof Kaiser Friedrichs III. in Linz.
  • 24.10.1492: Friedrich III. verlieh Reuchlin das kleine Palatinat.
  • 1496: Nach dem Tod Eberhards im Bart (am 25. Febr.) verließ Reuchlin
    Württemberg und ging auf Einladung des Bischofs von Worms und pfälzischen Kanzlers Johann von Dalberg nach Heidelberg.
  • Ende 1497: Kurfürst Philipp der Aufrichtige ernannte Reuchlin zum pfälzischen Rat
    und obersten Erzieher seiner Kinder.
  • 1499: Reuchlins Rückkehr nach Württemberg;.
  • 1502: Berufung zum Richter der Fürstenbank des Schwäbischen Bundes.
  • 1513: Aufgabe des Richteramtes; zeitweilig auch Tätigkeit im Dienst Herzog
    Ulrichs von Würtemberg (1487-1550).

Mit dem Tod seines Förderers Eberhard im Bart endete 1496 Reuchlins Karriere am württembergischen Hof abrupt, weil er vor den Nachstellungen Konrad Holzingers, des Beraters des neuen Herzogs Eberhard des Jüngeren, fliehen mußte, nachdem er 1488 für die Inhaftierung des Augustinermönches gesorgt hatte. Zwar erlangte Reuchlin auch am Heidelberger Hof und nach seiner Rückkehr ins Württembergische angesehene Ämter und hohe Würden, aber es blieb ihm doch mehr Zeit für seine Studien.

3.) Der Philologe und Humanist: Vom Präzeptor zum Professor

  • 1473/74: Reuchlin, selbst noch fortgeschrittener Student, begleitete Friedrich,
    den Sohn des badischen Markgrafen Karl I., als praeceptor ((Privat-)
    Lehrer, Präzeptor) nach Paris.
  • 1474: Mit der Promotion zum Baccalarius erwarb Reuchlin die Berechtigung,
    in gewissem Umfang Lehrveranstaltungen abzuhalten.
  • 1477-1522: Briefwechsel Reuchlins mit zahlreichen Gelehrten in Deutschland und
    anderen europäischen Ländern.
  • 1478: Reuchlin veröffentlichte in Basel anonym ein lateinisch-lateinisches
    Wörterbuch (den „Vocabularius breviloquus“).
  • 1479-1481: In Orléans und Poitiers erteilte Reuchlin Griechischunterricht. Damals
    entstand das ‚Mikropaideia’ genannte Lehrbuch.
  • 1482: 1. Italienreise: Aufenthalte in Florenz und Rom; Bewunderung
    Reuchlins für die Renaissance und den italienischen Humanismus.
  • 1482-1495: Reuchlin übersandte zahlreiche Schriften an Bischof Johannes von
    Dalberg („De quattuor Graecae linguae differentiis“, „Quottidiana colloquia Graeca“, beide wohl 1489 verschickt) oder an Graf bzw. Herzog Eberhard im Bart (drei Reden des Demosthenes; Lukians XII. Totengespräch; übertragen und dediziert 1495).
  • 1490: 2. Italienreise: Begegnung mit Giovanni Pico della Mirandola.
  • 1496-1499: Reuchlins Heidelberger Jahre: Mitgliedschaft in der Sodalitas litteraria
    Rhenana, einer rheinischen Humanistengesellschaft, deren Mitgliedern Reuchlin Mitgliedern Griechisch- und Hebräischunterricht erteilte.
  • Ende 1496: „Sergius vel capitis caput“ (Komödie: Verteidigung der Poesie gegen
    Angriffe scholastischer Gelehrter, Kritik am Reliquienkult und an den Mendikanten); das Stück kam zunächst nicht zur Aufführung.
  • 31.1.1497: Erstaufführung der „Scaenica progymnasmata“, auch „Henno“ genannt,
    eine (später äußerst beliebte) Komödie für die Schulbühne.
  • 1499-1519: Reuchlins Bemühungen um das Griechische treten zugunsten intensiver
    Hebräischstudien zurück: „De rudimentis Hebraicis“ (Wörterbuch und Grammatik 1506, in Pforzheim erschienen), Ausgabe der Sieben hebräischen Bußpsalmen mit Übersetzung (1512), „De accentibus et orthographia linguae Hebraicae“ (1518).
  • 1518: Ablehnung eines Rufes auf die Professur für Griechisch und Hebräisch
    in Wittenberg.
  • 29. 2. 1520: Ernennung zum Professor für Griechisch und Hebräisch an der
    Universität in Ingolstadt.
  • 1521: Professur für Griechisch und Hebräisch in Tübingen.

Im Anschluß an seine Rückkehr aus Heidelberg nach Stuttgart im Jahr 1499 widmete sich Reuchlin, wie die Übersicht zeigt, intensiv seinen Studien zur hebräischen Sprache und Literatur, für deren Bewahrung er sich nachdrücklich einsetzte. Seine in dieser Sache energisch vertretenen Ansichten brachten ihn freilich alsbald in Schwierigkeiten, denn sie lösten bei manchen Theologen heftigen Widerspruch aus. Die Auseinandersetzungen mündeten schließlich sogar in einen Inquisitionsprozeß.

4.) Reuchlin als Streiter wider die Dunkelmänner: Der Hebraist und die katholische Kirche

  • 1505: Erscheinen der „Tütsch missive, warumb die Juden so lang im ellend
    sind“; Reuchlin erste Beschäftigung mit der Lage der Juden im Reich.
  • 1510: Der Mainzer Erzbischof Uriel von Gemmingen beauftragte Reuchlin
    mit der Erstellung eines Gutachtens zu der Frage, ob eine Beseitigung der hebräischen Bücher, die die Juden neben dem Alten Testament benutzten, dem christlichen Glauben förderlich sei. Während sich andere Gutachter, darunter der Kölner Theologe Jakob Hoogstraeten, für die Vernichtung jüdischer Schriften aussprachen, lehnte Reuchlin ein solches Vorgehen ab. Dadurch geriet er in Konflikt mit dem Konvertiten Johannes Pfefferkorn, der sich energisch für eine Beschlagnahmung solcher Texte eingesetzt hatte.
  • 1511: Pfefferkorn griff Reuchlin in seiner Schrift „Handt Spiegel“ heftig an,
    bezweifelte dessen Rechtgläubigkeit und Hebräischkenntnisse; Reuchlin verteidigte sich mit dem „Augenspiegel“; auf Betreiben Hoogstraetens untersuchte die theologische Fakultät der Universität Köln den „Augenspiegel“ und stellte Abweichungen von der kirchlichen Lehrmeinung fest.
  • 1512: Reuchlin erläuterte seine Ansichten in der Abhandlung „Ain clare
    verstentnus“; dennoch wurde der „Augenspiegel“ auf Betreiben der Kölner Universität durch den Kaiser verboten.
  • 1513: Reuchlin publizierte eine „Defensio contra calumniatores suos“; auch
    sie wurde verboten. Einige Aussagen des „Augenspiegel“ betrachtete man als ketzerisch; der Dominikanerprior Hoogstraeten eröffnete daraufhin einen Inquisitionsprozeß gegen das Buch.
  • 1514: Der mit der Weiterführung des Prozesses beauftragte Bischof von
    Speyer sprach den „Augenspiegel“ zwar frei; Hoogstraeten appellierte aber an den Heiligen Stuhl. Der Prozeß wurde deshalb nach Rom verlegt. Im Verlauf der ihn begleitenden literarischen Auseinandersetzungen erschienen zunächst Reuchlins „Clarorum virorum epistulae“, später die „Dunkelmännerbriefe“ seiner Anhänger.
  • 1516: Eine päpstliche Kommission bestätigte den Speyerer Freispruch.
    Allerdings schaltete sich nun der Papst selbst ein und vertagte die Entscheidung.
  • 1520: Unter dem Eindruck von Luthers Wirken fällte der Papst ein hartes
    Urteil: Er verbot die Verbreitung und Lektüre des Buches und erlegte Reuchlin Stillschweigen auf. Reuchlin fügte sich dem Urteil.

Inzwischen zum Professor für Griechisch und Hebräisch nach Ingolstadt und später nach Tübingen berufen, widmete sich der alternde Gelehrte vornehmlich der Lehre. Er starb am 30. Juni 1522 in Stuttgart.

II.)

Nach diesem Überblick ist es nun an der Zeit, die Daten und Fakten von Reuchlins Vita zu erläutern und die einzelnen Aspekte in ihren historischen Zusammenhang einzuordnen. Ich tue das wiederum in vier Abschnitten.

1.) Bildungseinrichtungen im späten Mittelalter: Schulen und Universitäten

Reuchlins Bildungsweg begann, wie wir eben sahen, an der Pforzheimer Lateinschule, einer Einrichtung, die aller Wahrscheinlichkeit nach während des letzten Viertels des 13. Jahrhunderts im dortigen Dominikanerkloster entstand. Wenn wir annehmen, daß Johannes Reuchlin seit seinem siebten Lebensjahr, dem üblichen Durchschnittsalter mittelalterlicher Schulanfänger, am Unterricht teilnahm, muß er um 1461/62 in die Schule eingetreten sein. Zu jener Zeit war sie jedoch keine Klosterschule mehr, sondern zeichnete sich vielmehr durch ihre räumliche wie institutionelle Nähe zum 1460 gegründeten Kollegiatstift St. Michael aus. Sie war schon lange nicht mehr im Mendikantenkloster beheimatet; inzwischen befand sie sich in der Predigergasse am Fuß des Schloßbergs. Seine Lehrer waren auch keine Dominikaner, sondern der Schulmeister des Stifts und seine an der Michaelskirche bepfründeten Gehilfen.

Über den Unterricht an einer Schule wie derjenigen in Pforzheim erfährt man üblicherweise nur wenig. Nach dem, was man über entsprechende Bildungseinrichtungen an anderen Orten weiß, darf man aber vermuten, daß die wesentlichen Gegenstände des üblicherweise zwei bis drei Jahre dauernden Anfangsunterrichts Lesen und Schreiben, Singen, Zählen und Rechnen sowie Latein waren. Die Vermittlung passiver und aktiver Lateinkenntnisse wurde als eine der Hauptaufgaben des Schulunterrichts angesehen. Die Beherrschung der lateinischen Sprache war der Schlüssel zum Buchwissen jener Zeit und unerläßliche Voraussetzung für das Studium der Heiligen Schrift. Für ein Studium der Artes liberales reichte das Gelernte freilich noch nicht aus. Es folgten daher bis zu fünf weitere Jahre, die vornehmlich dem Grammatikunterricht und der Lektüre von Werken antiker und spätantiker heidnischer wie christlicher Autoren gewidmet waren.

Die schon erwähnten Artes liberales, die sieben Freien Künste, bildeten das Bindeglied zwischen dem elementaren beziehungsweise weiterführenden Unterricht der Kinder und Jugendlichen auf der einen und dem Studium von Theologie, Jurisprudenz und Medizin auf der anderen Seite. Als Artes liberales bezeichnete man einen Kanon von sieben Wissenschaften, mit denen sich zu beschäftigen eines freien Mannes würdig war: Dazu zählten zunächst die drei als Trivium bezeichneten „redenden“ Fächer Grammatik, Dialektik und Rhetorik sowie die vier „rechnenden“ Disziplinen Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik, die das sogenannte Quadrivium bildeten. (Ursprünglich war „trivium“ im antiken Latein das Wort für einen Dreiweg, einen Ort also, an dem drei Wege zusammentreffen, und „quadrivium“ für einen Vierweg, eine Kreuzung von vier Wegen.)

Bis zum Frühjahr 1470 nahm Reuchlin am Unterricht der Lateinschule teil. Dann – im Mai – wechselte er, gerade sechzehnjährig, zur Universität Freiburg im Breisgau. Der Unterricht verlief dort wie überall in gleicher Weise: In einer Vorlesung (der lectio) wurde ein Abschnitt eines Buches aus dem Lektürekanon vorgetragen („gelesen“) und kommentiert. Im Anschluß daran wurden Fragen zum Thema des Werkes formuliert, Lösungsvorschläge gemacht oder Widerlegungen entwickelt. Im Verlauf des Artes-Studiums nahm man auf diese Weise etwa dreißig Bücher anerkannter Autoritäten durch, deren Kenntnis für das Bestehen des Magisterexamens als unabdingbar galt. Die Bakkalarprüfung wurde zumeist nach drei Semestern abgelegt, das ihr eventuell folgende Magisterexamen in der Regel nach drei Jahren.

Während das Studium der Artes – wenn überhaupt – mit der Magisterprüfung abgeschlossen wurde, geschah dies in den höheren Fakultäten entweder durch das Lizentiat oder der erheblich teureren Doktorpromotion. Der Erwerb dieser universitären Grade bezeugte die vollkommene Beherrschung des Studienfaches. Am höchsten war der Doktortitel angesehen, aber auch Lizentiat und Magistergrad sicherten Ansehen und Würde. Das Lizentiat war ein Examen, dem nach erfolgreichem Bestehen die Verleihung der überall in der Christenheit gültigen Lehrbefugnis, der licentia ubique docendi, durch eine kirchliche Autorität, etwa den dazu berechtigten Kanzler einer Universität, folgte.

Obgleich Reuchlin einen geradezu musterhaften Bildungsweg zurückgelegt und sogar die Promotion zum Doktor des weltlichen, des sogenannten römischen Rechts erlangt hatte, schlug er den Weg einer Universitätskarriere nicht ein. Er nutzte vielmehr eine andere Möglichkeit, die ihm das Studium der Rechte bot, nämlich eine nicht minder prestigeträchtige Tätigkeit im Dienst eines Fürsten.

2.) Im Dienst des Landesherrn: Juristen und gelehrte Räte

Mit seiner Entscheidung, sich dem weltlichen (im Gegensatz zum geistlichen, dem kanonischen) Recht zuzuwenden, bewies Reuchlin ein hervorragendes Gespür für den sich wandelnden Geist seiner Zeit und die Veränderungen im Rechtswesen, in Verfassung und Verwaltung. Denn sehr viele Aspekte dieses Wandels waren eng verbunden mit der Rezeption des (in seinen wesentlichen Teilen während der Spätantike kodifizierten) römischen Rechts. Der so bezeichnete Aneignungsprozeß begann in Deutschland, das zuvor dem germanischen und weitgehend schriftlosen Recht verhaftet war, im 13. Jahrhundert und dauerte bis zum Ende des 15. Durch ihn wurde die Rechtspflege verwissenschaftlicht und zwar auf verschiedenen Ebenen des Rechtsdenkens und der daraus resultierenden Praxis.

So fanden geistliche wie weltliche Juristen wichtige Betätigungsfelder im Dienst von Fürsten, die erkannten, daß nicht nur die Rechts-, sondern auch die gesamte Regierungstätigkeit immer stärker von dem neuen, wissenschaftlichen Charakter des juristischen Denkens und Argumentierens geprägt wurde. Denn es kamen nicht nur neue Rechtsprobleme auf, welche die Fähigkeiten der traditionellen Eliten ihres Gebotsbereiches überstiegen (etwa bei Stadtrechtsreformationen oder Universitätsgründungen). Das Vordringen des römischen Rechts veränderte auch die landesherrliche Herrschafts- und Gerichtspraxis, beispielsweise durch das immer stärkere Verschriftlichung von Verwaltungsvorgängen oder den Ausbau der Hof- und Appellationsgerichte. Die deutschen Landesherrschaften wurden von einem Modernisierungsprozeß erfaßt, der die Mitwirkung von Juristen unabdingbar machte. Sie fungierten am Hof des Landesherrn als dessen Berater („Räte“ genannt) in rechtlichen wie politischen Belangen, als Gesandte in diplomatischen Missionen beziehungsweise als Richter oder Beisitzer am Hofgericht.

Während seiner ersten Jahre im Dienst Graf Eberhards wurde Reuchlin in hohem Maß durch seine (1483 beginnende) Tätigkeit als Beisitzer am Hofgericht in Anspruch genommen. Das Hofgericht entstand um 1474. Es tagte zwei bis vier Mal im Jahr. Daneben hatte er, wie den Spesenabrechnungen der Landschreiberei zu entnehmen ist, zahlreiche Reisen für seinen Herrn zu unternehmen. Waren seine Missionen anfangs vornehmlich juristische Aufträge, kamen in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre politische Gesandtschaften hinzu. Offensichtlich gehörte Reuchlin inzwischen zum engeren Beraterkreis Graf Eberhards.

Kein Amt in pfälzischen Diensten war übrigens das kleine Hofpfalzgrafenamt (Palatinat). Es diente vielmehr dem Kaiser dazu, angesehene Persönlichkeiten, zumeist bedeutende Juristen, zu ehren. Friedrich III. verlieh Reuchlin das kleine, nicht erbliche Palatinat mit einer auf den 24. Oktober 1492 datierten Urkunde. Er erhielt dadurch das Recht, Doktoren zu promovieren, Notare zu ernennen, bestimmte Gerichtsakte wie beispielsweise Adoptionsbestätigungen vorzunehmen und – für den ursprünglich bürgerlichen Reuchlin wohl von besonderer Bedeutung – ein eigenes Wappen zu führen.

Nach der Rückkehr ins Württembergische ist eine neue Karriere in Sold und Dienst des Landesherrn nicht mehr nachzuweisen. Allerdings erhielt Reuchlin unter Herzog Ulrich den Status eines unbesoldeten Rates (der „von Haus aus“ agierte, also nicht dauernd am Hof anwesend war). Seinen Lebensunterhalt verdiente Reuchlin von 1502 bis 1513 als Richter des von 1488 bis 1534 bestehenden Schwäbischen Bundes, eines auf Betreiben Kaiser Friedrichs III. (gegen die Wittelsbacher gerichteten) Zusammenschlusses der südwestdeutschen Stände (also Fürsten, [Nieder-]Adel/Ritter, [Reichs-]Städte). Der Bund hatte den Charakter einer Einung zur Wahrung des Landfriedens. Streitigkeiten wurden durch die in der Einungsbewegung ausgebildete freiwillige Schiedsgerichtsbarkeit geregelt. Das Bundesgericht formte man zu einem ständigen Schiedsgericht mit drei gelehrten Berufsrichtern, den triumviri Sueviae. Reuchlin war damit einer von ihnen.

Fazit: Reuchlins Rechtskenntnisse sicherten ihm ein gutes Einkommen, hohes Ansehen und adelsgleichen Status. Dauerhaften Ruhm hingegen erwarb er als exzellenter Kenner des Lateinischen wie Griechischen und als Humanist.

3.) Antike, Philologie, Humanismus und Renaissance

Das Wort ‚Humanismus’ ist eine im 19. Jahrhundert geprägte Bezeichnung für die Geistesbewegung des 14. bis 16. Jahrhunderts. Ein paralleler, aber nicht synonymer Begriff ist ‚Renaissance’. Darunter versteht man den umfassenden kulturellen und sozialen Wandel zwischen Mittelalter und Neuzeit, dessen wesentliche Elemente die Ausprägung eines individuellen Selbstbewußtseins, eine intensiv betriebene naturwissenschaftliche Forschung und die Rezeption antiker Kunst, Literatur und Gelehrsamkeit waren. ‚Humanismus’ meint hingegen allein die diesem Wandel zugrundeliegende Bildungsbewegung. Der Erwerb humanistischer Bildung ist ein Prozeß: ‚humanitas’ bedeutet Menschlichkeit im Sinne höherer Bildung, Höflichkeit, Kultiviertheit und verfeinerte Lebensart. Man erwirbt sie in der Auseinandersetzung mit sprachlich geformter, fremder (antiker) humanitas; so wird ein Individuum selbst zu einem sprachlich mündigen und moralisch verantwortlichen Menschen.

Johannes Reuchlins Vita zeigte nun typische Merkmale eines Humanisten. Dazu zählen zunächst einmal, aber das braucht kaum eigens betont zu werden, seine exzellenten Kenntnisse der lateinischen, griechischen und hebräischen Sprache und Literatur. Reuchlin war stolz darauf, die ausgetretenen Pfade des scholastischen Umgangs mit der Antike frühzeitig verlassen zu haben.

Wichtig, ja geradezu richtungsweisend, waren für den Gelehrten auch seine beiden Italienreisen: 1482 im Gefolge Graf Eberhards über Florenz nach Rom zu Verhandlungen mit Papst Sixtus IV. und 1490 als Begleiter Ludwig Wirtembergers, des illegitimen Sohnes Graf Eberhards. Der Besuch in Florenz löste, wie kaum anders zu erwarten, bei Reuchlin Begeisterung aus, der noch 1517 schrieb: „Zu jener Zeit gab es nichts Blühenderes als Florenz, wo von Literatur und Wissenschaft all das wiedererstand, was zuvor untergegangen war“.

Nicht nur im Ausland pflegte der Gelehrte Kontakte zu Gleichgesinnten, auch mit befreundeten Humanisten innerhalb des Reiches tauschte er sich aus. Am intensivsten waren diese Verbindungen an den Höfen Graf Eberhards und des Wormser Bischofs Johannes von Dalberg. „Heidelberg wurde für ihn [sc. Reuchlin] zum stimulierenden Kontext seines poetischen Ingeniums“. Dort verfaßte er bei passender Gelegenheit kleinere Gedichte in Griechisch und Latein sowie mit dem „Sergius“ und den „Scaenica progymnasmata“ (auch „Henno“ genannt) „zwei lateinische Komödien, die zu den ersten humanistischen Schuldramen Deutschlands in der Nachfolge von Plautus und Terenz gehören“ Von besonderer Bedeutung ist im vorliegenden Zusammenhang Reuchlins Briefwechsel. Kaum ein Zeugnis gibt unmittelbarer Auskunft über die Anfänge und die Blütezeit des Humanismus nördlich der Alpen.

Und noch ein letzter Aspekt ist zu erwähnen: Wenn Reuchlin, wie bereits erwähnt, stolz von sich behauptete, er habe als erster das Griechische nach Deutschland gebracht, meinte er damit, „sein Wirken sei Akt der Wiedererweckung des Altertums gewesen“. Reuchlin bezog so indirekt den Renaissance-Begriff auf sich selbst und war auf diese Weise „ein frühes Beispiel des sich seiner selbst bewußten Renaissance-Individuums“.

4.) Reuchlin, die Juden und die Kirche

Reuchlins denkwürdigste Leistung war sein intensives und unbefangenes Bemühen um die Bewahrung der jüdischen Sprache und Literatur. Reuchlins Zugang zu beidem war, wie seine humanistischen Interessen vermuten lassen, ein philologischer, seine Motivation in erster Linie eine theologisch-philosophische – heute könnte man mit einem modernen Schlagwort auch sagen: eine intellektuelle. Persönliche Beziehungen zu Juden hatte er augenscheinlich kaum. „Ohne Zweifel“, so schreibt Hans Peterse, „ist Reuchlin in vielerlei Hinsicht den traditionellen anti-jüdischen Vorstellungen der christlichen Gesellschaft verhaftet geblieben“.

Nicht Freundschaften mit einzelnen Juden oder gar Sympathie für das leidgeprüfte jüdische Volk trieben Reuchlin also zur Beschäftigung mit der hebräischen Sprache und Literatur. Es waren andere Motive. Erstens: Reuchlin beklagte, dass die Lektüre der Heiligen Schrift von den scholastischen Theologen vernachlässigt wurde. Die Bibel sollte seiner Ansicht nach wieder in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses rücken. Er plädierte dafür, die Texte in ihren Originalsprachen zu lesen.

Zweitens: Reuchlin war auf der Suche nach Gottes Uroffenbarung. Sein „Ziel war […], in möglichst frühe Zeiten menschlicher Weisheit vorzustoßen und dadurch möglichst nahe an die Offenbarung Gottes heranzukommen“. Denn nur von Gott gestiftetes Wissen sei wahres Wissen. Erstmals, so Reuchlin, habe sich Gott den Juden offenbart und sich dabei des Hebräischen bedient. Die älteste von Gott gesprochene Lehre sei die kabbalistische, die Gott Adam offenbart habe. „Das Wort „Kabbala“ leitete Reuchlin vom hebräischen Wort für „empfangen“ ab und definierte „Kabbala“ dementsprechend als „das vom Himmel Empfangene“. Sie sei eine Gabe Gottes und dem menschlichen Verstand nicht von sich aus zugänglich“ (Gerald Dörner).

Drittens: Reuchlin wollte schließlich noch mehr. Er suchte die Urgründe aller Philosophie, meinte sie in der Kabbala und der mit ihr gleichgesetzten Lehre des Pythagoras und seiner Zahlensymbolik zu entdecken. Indem er den Pythagoreismus und die Kabbala gleichsetzte, führte er sie auf die Uroffenbarung zurück und wollte so die Übereinstimmung von Weltweisheit und christlichem Glauben nachweisen.

Es überrascht nicht, dass Reuchlin mit seinen in „De verbo mirifico“ und besonders in „De arte cabalistica“ vorgetragenen Spekulationen Ablehnung und Widerspruch durch die Kirche hervorrief. Einer der energischsten Gegner Reuchlins war – neben Johannes Pfefferkorn – der Kölner Dominikaner, Theologe und Inquisitor Jakob Hoogstraeten, der seinem Widersacher vorwarf, „er begünstige die jüdische perfidia“ und damit die Ketzerei. So kam, was kommen musste: 1520 scheiterte Reuchlin mit seinem Anliegen völlig: Er verlor den Prozeß an der Kurie.

Trotz der heftig geführten Auseinandersetzung mit Theologen und der Inquisition fiel Reuchlin nicht von der Kirche ab. Und nicht nur das: „Kurz vor seinem Tode ließ Reuchlin sich zum Priester weihen und wurde Mitglied einer marianischen Bruderschaft“, der Stuttgarter „Salve Regina“-Fraternität. In ihrem Bruderschaftsbuch ist er unter den „sacerdotes“ aufgeführt. So nimmt es nicht wunder, dass sich Reuchlin dem Reformator Luther gegenüber, der in dem Humanisten einen Schicksalsgenossen vermutete, distanziert verhielt. Darüber kam es sogar zum Bruch mit seinem Großneffen Philipp Melanchthon. Reuchlin weigerte sich deswegen sogar, Melanchthon, dem Wittenberger Griechischprofessor und Lutheranhänger, seine griechischen und hebräischen Handschriften zu überlassen. Der Phorcensis vermachte sie vielmehr dem Michaelsstift seiner Heimatstadt. „Das reformatorische Anliegen ist ihm immer fremd geblieben“.

Resümee:

Der knappe Überblick über Johannes Reuchlins Leben enthält einige Gesichtspunkte, die für eine Würdigung von Belang sind und deshalb verdienen, hervorgehoben zu werden.

Erstens: Reuchlins Bildungsweg wies Stationen in Deutschland, der heutigen Schweiz sowie Frankreich auf und wurde durch Reisen nach Italien ergänzt. Auch seine wissenschaftlichen Interessen reichten weit und schlossen Griechenland sowie die Schauplätze des Alten und Neuen Testaments ein. Reuchlin war Europäer und Humanist mit einem weiten Horizont. Dennoch legte er Zeit seines späteren Lebens Wert darauf, Württemberg nach Möglichkeit nicht zu verlassen.

Zweitens: Auf der Suche nach Maximen zur Lebensgestaltung wandte er sich den intellektuellen Angeboten der Antike zu. Diese auf die Vergangenheit gerichtete Perspektive hatte aber nicht zur Folge, daß ihm grundlegende gesellschaftliche Wandlungen seiner Gegenwart aus dem Blick gerieten. Im Gegenteil: Sehr bewußt entschied sich Reuchlin für die zukunftsträchtige Beschäftigung mit dem weltlichen Recht, die ihm dann tatsächlich ja auch ein komfortables Leben ermöglichte.

Drittens: Die Juristerei verschaffte Reuchlin im Fürstendienst ein vergleichsweise gutes Einkommen, hohes Ansehen unter seinen Zeitgenossen und eine adelsgleiche Stellung. In seinen Veröffentlichungen haben Rechtsprobleme seiner juristischen Berufspraxis und Richtertätigkeit jedoch nur selten ihren Niederschlag gefunden.

Viertens: Dauerhafter schriftstellerischer Ruhm wurde dem Gelehrten als vir trilinguis, Philologe und Humanist hingegen durch seine Lehrbücher, Übersetzungen, Komödien und seinen Briefwechsel zuteil.

Fünftens: Über seine literarische Bedeutung hinausgehende Weltgeltung als eine herausragende Gestalt der Geistesgeschichte erlangte er durch den als causa Reuchlini berühmt gewordenen Rechtsstreit mit der Kirche um die Bewahrung jüdischer Sprache, Literatur und Bücher.

Sechstens: Sein in erster Linie wissenschaftlich begründeter Einsatz für die jüdischen Bücher sollte freilich nicht zu der Ansicht verleiten, Reuchlin sei von religiös motivierten Vorbehalten gegenüber den Juden (gänzlich) frei gewesen. Toleranz im modernen Sinn interkulturellen Umgangs mit nichtchristlichen Religionen ist Reuchlin gewiß abzusprechen, auch wenn man ihn als Wegbereiter einer solchen Geisteshaltung ansehen mag.

Siebtens: Nolens volens wurde Reuchlin im Verlauf seiner Auseinandersetzung mit konservativem und scholastischem Denken verhafteten Theologen zu einer angesehenen Leitfigur der Humanisten. Zum Bruch mit der Papstkirche führte das aber ebensowenig wie Melanchthons oder Luthers Bemühungen, ihn für die Reformation zu gewinnen. Reuchlin, der konsequent argumentierende, ausdauernde und bisweilen harsche Kirchenkritiker, blieb katholisch und ließ sich gegen Ende seines Lebens sogar zum Priester weihen.

Achtens: Als Philologe und Jurist war Reuchlin ein scharfsinniger Wissenschaftler, der mit beachtlichem analytischen Potential sprachliche wie rechtliche Sachverhalte präzise beschrieb. Als Verfechter einer christlichen Kabbala ließ er sich allerdings auf Spekulationen ein, denen bereits Zeitgenossen wie Erasmus von Rotterdam nicht mehr zu folgen bereit waren.

Johannes Reuchlin, so bleibt festzuhalten, war ein Mann mit vielfältigen Begabungen und, wie man vermuten darf, eine komplexe Persönlichkeit. Eine Würdigung seines Lebens und seiner Leistungen hat die genannten Widersprüchlichkeiten zu berücksichtigen. Der Gelehrte, der selbst so trefflich zu differenzieren wußte, hat Anspruch auf eine nicht minder differenzierte Darstellung seiner Vita.

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