LÖBLICHE SINGERGESELLSCHAFT
VON 1501
PFORZHEIM


Die Wirtschaft zur Zeit Reuchlins

Vortrag
Prof. Dr. Gert Kollmer-von Oheimb-Loup, Direktor des Wirtschaftsarchivs Baden-Württemberg

am 28.09.2005 in der IHK Nordschschwarzwald Pforzheim

 
Vortrag


Fotos von Caroline Kirstein, mit freundlicher Genehmigung der Pforzheimer Zeitung.
Foto links zeigt, v.l.: Claus Kuge Obermeister der Löblichen Singergesellschaft von 1501 Pforzheim und Mitglied der Vollversammlung der IHK Nordschwarzwald, Prof. Dr. Gert Kollmer-von Oheimb-Loup, Achim Rummel Hauptgeschäftsführer der IHK Nordschwarzwald


In einem Brief an Wolfgang Fabricius Capito vom 26. Februar 1517 äußerte der betagte Humanist und Zeitgenosse von Reuchlin, Erasmus von Rotterdam, den Wunsch, noch einmal jung zu sein: „Denn ich sehe in naher Zukunft ein goldenes Zeitalter“. Erasmus merkte es offensichtlich nicht: er lebte bereits darin. Viel deutlicher äußerte sich da vier Jahre später der Zeitgenosse Martin Luther: „Wenn man auch alle Chroniken liest, so wird man seit der Geburt Christi nichts finden, das mit dem verglichen werden könnte, was sich in den letzten hundert Jahren unter uns begeben hat. Nie hat man in irgendeinem Lande so viele Bauwerke, so viel bestelltes Land gesehen! Nie so viel zu trinken, so reichlich und feine Speisen und für so viele Leute erschwinglich. Die Kleider können nicht kostbarer sein. Wer hat je von einem Handel wie dem heutigen gehört? Er erstreckt sich über die Welt und umfasst die ganze Erde. Die Malerei, der Holzschnitt, alle Künste haben Fortschritte gemacht und vervollkommnen sich weiter. Außerdem gibt es unter uns so geschickte und kluge Leute, deren Geist alles durchdringt, dass heute ein Jüngling von zwanzig Jahren mehr weiß, als zu anderen Zeiten zwanzig Doktoren.“

Diese Aussagen zweier unmittelbarer Zeitgenossen Reuchlins machen uns eindrucksvoll klar, dass die Lebenszeit Reuchlins nicht nur eine - wie allgemein bekannt – Phase des geistigen Umbruchs von grundlegenden Veränderungen in Philosophie und Theologie war, sondern eben auch auf dem Gebiet der Ökonomie. Die geschichtliche Entwicklung vom Hundertjährigen Krieg bis zum Augsburger Religionsfrieden wird weniger von Kaiser, Fürsten und Päpsten bestimmt, als vielmehr von theologisch-ethisch-kulturellen, wirtschaftlichen und technischen Veränderungen und Neuerungen.

Freilich - darüber muss man sich von vornherein im Klaren sein: die Veränderungen kamen nicht über Nacht, sondern es bedurfte einer langen Zeitspanne von zwei bis drei Generationen, bis mit der Beschränktheit der damaligen Medien uns eine veränderte Welt mit anderen geistigen Grundlagen entgegentritt. Seit ca.1350/1400 lassen sich drei Phasen erkennen, die die Wirtschaft der damaligen Welt veränderten, zeitlich parallel liefen und sich überlappten: 1. Der Siegeszug der städtischen Wirtschaft, ausgehend von Nordfrankreich und Flandern sowie den oberitalienischen Stadtstaaten, der die bisherige harmonische Ausgewogenheit des Mittelalters zwischen Stadt und Land zugunsten der Stadt aufhob und dem Bürgertum eine neue soziale Vorrangstellung verschaffte. 2. Die Erweiterung des europäischen Wirtschaftsraumes durch die großen Entdeckungen und die Nutzung neuer Seewege mit den Merkmalen eines sich ausgreifenden Handels und eines sich entwickelnden Gewerbes sowie 3. Die deutsche Wirtschaft entwickelte sich im Rahmen der neu sich bildenden Weltwirtschaft, ohne Kolonien zu besitzen, zu einer bedeutenden Wirtschaftsmacht.

Wenden wir uns kurz der ersten Phase zu. Sie erfolgte bereits vor der Zeit Reuchlins, in die daraus resultierenden Veränderungen und Probleme wurde er hineingeboren. Am Anfang dieser Phase steht die Pestzeit des langsam zu Ende gehenden Mittelalters. Diese Pestzeit dezimierte ca. 30 – 50 Prozent der Bevölkerung, wobei die stärksten Verluste infolge der Ansteckung auf engstem Raum in den Städten zu verzeichnen war, die3 ländliche Bevölkerung hatte dabei weit weniger Verluste zu beklagen. So produzierten nur noch wenige Produzenten gewerbliche Produkte, wodurch der Preis stark anstieg, während die landwirtschaftlichen Erzeugnisse infolge der stark gesunkenen Abnehmerzahl einen Preisverfall bislang nicht gekannten Ausmaßes erfuhren. Immerhin lebten in der vorindustriellen Gesellschaft rund drei Viertel der Bevölkerung von der Landwirtschaft. Dagegen blieben die Produktionsmittel und der Immobilienbestand in den Städten annähernd unverändert, eine bis dahin in Europa nicht gekannte wirtschaftliche Konstellation. Die Folge davon war, dass der Bauernstand an Bedeutung und Einkommen verlor, die Grundrenten sanken, was wiederum auch die Grundherren bzw. dem Adel eine schlechte ökonomische Basis bot. Dagegen profitierten Handwerker und der Handelsstand. Die Wirtschaftskraft der Städte wurde gestärkt durch eine vermehrte Belebung des Handels und der gewerblichen Produktion. Jedoch schon zu Lebzeiten Reuchlins begann sich diese Situation durch das Verlagssystem zu ändern, wie wir nachher noch sehen werden.

Die zweite Phase ist gekennzeichnet durch die Ausgreifung des Wirtschaftsraumes durch die Seefahrer, als dem Beginn der Globalisierung der Welt. Lazarotto Malocello segelte Anfang des 14. Jahrhunderts über die Meerenge von Gibraltar hinaus zu den Kanarischen Inseln. 1341 wurde Madeira entdeckt und im 15. Jahrhundert erforschten die Portugiesen die afrikanische Küste: 1444 das Kap Verde, drei Jahre später die Äquatorlinie. Während die frühen Fahrten lange vor der Lebenszeit Reuchlins lagen, erlebte er die berühmt gewordenen Fahrten der Portugiesen und Spanier zu Lebzeiten, wie die Fahrten des Kolumbus seit 1492, die Fahrten des Vasco da Gama und die von Magalhaes (Magaljesch) zwischen 1519 – 1522 vorgenommene Erdumsegelung. Er erlebte die Entdeckung der Welt, deren Etappen sich um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert förmlich überstürzten, und er erlebte die ersten Auswirkungen auf die Wirtschaft des Abendlandes, er hörte von den in Lissabon ankommenden und mit Gewürzen beladenen Schiffen, und den ersten Versuchen der Eroberung und Kolonisation Amerikas durch die Spanier. Vielleicht kannte oder hörte er von der Schrift des Amerigo Vespucci mit dem Titel „Mundus Novus“, die 1502 erschien und bereits drei Jahre später 22 Auflagen erreichte. Auch Reuchlin hat noch erfahren, dass sich die christianitas nicht mehr allein auf Europa beschränkte und die Identität zwischen oikumene und christianitas, wie es das Mittelalter kannte, nicht mehr bestand. Vielleicht stellte sich auch Reuchlin die Frage, welche Stellung nehmen die Völker, die das Wort Christi nicht kennen, vor dem Gericht Gottes ein? Sie sehen es mir aber bitte nach, dass diese Probleme nicht Gegenstand meiner Ausführungen sind, ebenso darf ich davon ausgehen, dass die Entdeckung und Eroberung der neuen Welt Allgemeingut ist, und hier nicht näher vertieft werden muss. So bleibt mir, den Schwerpunkt der heutigen Betrachtung vor allem auf die 3. Phase zu legen, wo es gilt, die Grundlagen unserer modernen europäischen und deutschen Wirtschaft herauszuarbeiten.

Vor dieser bisher skizzierten Folie ereigneten sich Basisveränderungen, die die europäische Wirtschaft in den kommenden Jahrhunderten in eine in unserem Sinne moderne Volkswirtschaft überführte.
Greifen wir nun einige wichtige Meilensteine in dieser Entwicklung heraus und wenden uns den geistigen Veränderungen zu. Das Christentum setzte nicht nur für das gesellschaftliche, politische oder künstlerische Leben Grenzen, sondern eben auch für das wirtschaftliche Handeln. Die Religion war also ein äußerst komplexes Ganzes, das eben auch die Wirtschaft umfasste. In der Lebenszeit Reuchlins, begann jedoch, dass diese Grenzen Risse zeigten und die Gesellschaft sich anschickte, eine bewusstere Scheidung einer profanen von der religiösen Wirklichkeit vorzunehmen, bzw. vorzubereiten. In der Zeit Reuchlins war das Gefühl für Reformen mehr denn je ausgeprägt und beschäftigte die wachen und bewussten Schichten der weltlichen und kirchlichen Gesellschaft. Unsere Betrachtung folgt nun der Erkenntnis, dass die Religion nicht allein eine Botschaft vermittelte oder einen Kult verwaltete, sondern ebenso eine wirtschaftlich-politische Organisation darstellte. So müssen wir festhalten, dass die wirtschaftsethische Doktrin des Mittelalters und Spätmittelalters einem Zustand der Wirtschaft entsprach, der schon im Augenblick ihrer Formulierung in den fortgeschrittensten Wirtschaftsgebieten Europas, wie in einigen italienischen Stadtstaaten und in Flandern, überschritten war und andere Zentren sich ebenfalls anschickten, nachzufolgen. Das 14. und 15. Jahrhundert war stark geprägt von der sogenannten „Idee der Nahrung“ der Nominalisten, zu deren Hauptvertreter der englische Franziskaner Wilhelm von Ockham gehörte. Über die Universität Paris wurde diese Lehre schnell an die deutschen Universitäten übertragen und auch auf Luther blieb sie nicht ohne Einfluss. Zentren der nominalistischen Lehre waren Paris, Wien, Freiburg, Basel und Erfurt. Um es verkürzt zu sagen: Die Nominalisten befürworteten eine Wirtschaftsethik, bei der der Warenaustausch die Bedarfsdeckung zum Ziel hatte, der Wert der Güter sich nach deren Nützlichkeit bestimmt und jedem Stand gemäß von Seiten der Obrigkeit der notwendige Lebensunterhalt gewährt werden sollte. Dies beinhaltete eine Wirtschaftspolitik der obrigkeitlichen Preisbestimmung und eine klare Absage an die Preisbildung auf dem freien Markt, was auch in vielen Städten so umgesetzt wurde. Zu dieser Ethik, die das Spiel der Preisbildung am freien Markt verwarf, passte das Wirtschaftssystem der Zünfte, das in der Wirtschaftsordnung des gesamten Mittelalters vorherrschte. Dagegen versuchten die Scholastiker des 15. Jahrhunderts, neue Wege zu einer den modernen Wirtschaftsformen passenden Wirtschaftsethik zu etablieren. Es war ein Ringen um die Marktfreiheit. Allen voran der aus Calw stammende und an der Universität Tübingen lehrende Konrad Summenhart, der die Lehren von Albertus Magnus und Thomas von Aquin aufgriff und erweiterte. In seiner Lehre vom gerechten Preis nannte er 16 Faktoren, die in die Preisbildung mit einfließen sollen. Dazu gehörten u.a. Transport- und Lagerhaltungskosten, das kaufmännische Risiko, die momentane Wertschätzung einer Ware, entgangener Gewinn oder die Seltenheit und der Gefallen einer Ware. Für den Kaufmanns- und Handelsstand fand Summenhart anerkennende Worte, wandte sich jedoch wie auch die Nominalisten gegen jede Monopolstellung von Unternehmen. Diese Richtung wurde fortgesetzt durch eine neue Blütezeit der scholastischen Theologie, allen voran der italienische Kardinal Cajetanus sowie die spanischen Dominikaner Soto und Medina, die eine behördliche Preisregelung strikt ablehnten und die Meinung vertraten, der gerechte Preis würde durch Angebot und Nachfrage gebildet. Ferner befürworteten sie einen ausgedehnten Handel und billigten den Kaufleuten das Streben nach Gewinn zu.

Aber nicht nur von theologisch-wissenschaftlicher Seite wurde ein neues ökonomisches Denken vorbereitet. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts avancierte Augsburg zum Schauplatz für den Durchbruch eines neuen ökonomischen Denkens, das sich gleichzeitig mit dem Wachsen der neuen Ordnungsformen und der neuen Organisation und Geschäftstechnik vollzog. Hier führten große Interessen-Spannungen mit der überlieferten Wirtschaftsethik zu Auseinandersetzungen um die zukünftige Wirtschaftspolitik des Reiches und seiner Territorien. Hauptakteur war der Augsburger Patrizier und Jurist Conrad Peutinger. Verheiratet mit einer Welser Tochter gehörte er zu jener international agierenden Kaufmannsschicht, die seit Ende des 15. Jahrhunderts wesentlich die Wirtschaft Europas bestimmte.
In Deutschland konstituierte sich eine Antimonopol-Bewegung und Wucherdiskussion. Dies führte zu einer Spannung pointierter Gegensätze, die den Durchbruch des neuen ökonomischen Denkens aufs intensivste beförderte. Auf der Anklagebank standen die großen Fernhandelsgesellschaften und international tätigen Großunternehmer. Die Monopolfrage und die Wucherdiskussion wurde ausgelöst durch das konstante Absinken der Renten-Einkommen von Adel und Klerus im Gefolge der Preisrevolution, auf die später noch einzugehen ist. Nur einzelne Landesfürsten und das Kaiserhaus, die an Fernhandel und Montan-Großproduktion interessiert waren, standen außerhalb dieser Front. Hauptthemen wurden sehr rasch ein Reichszoll auf den Fernhandel, die Begrenzung von Kapitalausstattung und Geschäftsumfang der Gesellschaften sowie die obrigkeitliche Preisfestsetzung für Güter des Fernhandels. Peutinger, der in dieser Debatte die Großunternehmen vertrat, lenkte den Blick auf ein neues Ordnungsprinzip der Wirtschaft, forderte ein neues, der veränderten Situation angepasstes Ethos und eröffnete zum erstenmal den Blick für das Wirtschaftsganze. Er führte den Nutzen gerade der Wirtschaftszweige der Öffentlichkeit vor Augen, die Deutschland mit der gesamteuropäischen und außereuropäischen Wirtschaft verbanden und dem Land unter volkswirtschaftlichen Aspekten Wohlstand und Gewinn brachten. Er forderte das Leistungsprinzip, das den Tüchtigen belohnen sollte und verwarf die eng begrenzte Sicht der zünftlerisch gebundenen Wirtschaft. Und er fügte an, nur der Eigennutz sei ausreichender Anreiz für wirtschaftliches Wagen, Handeln und Arbeiten und forderte die Freiheit des Erwerbsstrebens. Diese Wirtschaftsauffassung ist der erste umfassende und in sich geschlossene Begriff der Wirtschaft als eigenständiges Gebilde. Es ist die Grundlage für die Förderung des Gemeinwohls, das aus dem Spiel der Privatinteressen und ihres sie stimulierenden Eigennutzes erwächst. Peutinger hat in seiner in der Monopoldiskussion des Reiches eingenommenen Stellung zum erstenmal unternehmerische Leistung in den Zusammenhang einer volkswirtschaftlichen Gesamtbetrachtung gebracht, bzw. der Führungsschicht des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation den Blick auf die Bedeutung des privatwirtschaftlichen Unternehmertums gelenkt.

Ebenfalls von Bedeutung war der Umbruch der sich innerhalb des Staates vollzog. Die seit dem Ausgang des Mittelalters sich immer stärker formierenden fürstlichen Territorialgewalten versuchten ihre Vorrechte gegen Bauern, Bürgern und Adel immer mehr zu festigen. Diese Vorgänge sind aber nicht Gegenstand meiner Betrachtungen. Uns interessiert viel mehr, was sich mit dem Übergang zum modernen Staat für die Wirtschaft änderte. Grundlegend dafür, dass die öffentliche Hand eine wichtige Rolle, vielleicht sogar in manchen Bereichen eine Schlüsselrolle im Wirtschaftsprozess einnahm, waren die zur Staatsbildung unverzichtbar gehörenden Faktoren wie Verwaltung, Finanzen und Steuern sowie das Militär. Der moderne Staat war für die Wirtschaft keine theoretische Formel, sondern eine konkrete wirtschaftliche und finanzielle Organisation, die mehr denn je Produkte und Kredit bei der Privatwirtschaft nachfragte. Der moderne Verwaltungs- und Militärapparat löste bislang ungeahnte Nachfrageschübe aus und beförderte damit vor allem wichtige privatwirtschaftlich geführte Bereiche der Produktion, des Handels und der Banken. Der zum Teil hohe Nachfragebedarf der öffentlichen Hände, vor allem im Bereich von Rüstungsgütern bzw. alles was damit im entferntesten verbunden war, wie Textilien, Lederartikel, Wagen etc., trug wesentlich dazu bei, dass die Produktion im gewerblichen Bereich in weitaus größeren Quantitäten erfolgen musste, was letztendlich den in Europa allgemein zu beobachtenden Änderungsprozess der Produktionsweise wie der gewerblichen Wirtschaftsstruktur maßgeblich beschleunigte. Mit anderen Worten, die Staatsnachfrage nach wichtigen militärischen Gütern trug dazu bei, dass die Wirtschaftsordnung, die die Zünfte im Zentrum ihrer ordnungspolitischen Instrumentariums hatte, hinterfragt wurde, bzw. ganz allmählich einem konkurrierenden System, nämlich dem Verlagswesen, ausgesetzt war. Aber darauf kommen wir nachher noch zu sprechen. Des weiteren beschleunigte der enorme Geldbedarf des modernen Staates eine Ausprägung und Verfeinerung der Kreditgeschäfts und führte dazu, dass sich zu Ende des vorindustriellen Phase im 18. Jahrhundert reine Bankunternehmen herausbildeten, was vorher noch überwiegend gemischtwirtschaftliche Gebilde waren, die sowohl Handel, Speditions- und Geldgeschäfte in einem betrieben. So kam es, dass die verschiedensten Formen des Kredits in einem bis dahin nie gekannten Ausmaß vergeben wurden. Noch nie gab es eine solche Anhäufung von Wechseln und Schuldscheinen. Die moderne Börse, damals noch in Form einer Warenbörse, wurde in Antwerpen kreiert, zum erstenmal mit freiem Zugang für Kaufleute aus ganz Europa. Ferner wurde durch die staatliche Nachfrage von Rüstungsgütern der internationale Handel vor neue Herausforderungen gestellt. Die nachgefragten Produkte mussten schneller verfügbar sein, was neue Wege für Produzenten und Händler erforderte und die Einrichtung von Zulieferern begünstigte. So wurde es möglich, dass die Endmontage eines Artikels nicht mehr bei den Produzenten lag, sondern durch einen international agierenden Händler organisiert wurde. Bei den zahlreichen Kriegshandlungen, die teilweise auch überstürzt ausgelöst wurden, kamen vor allem die Händler und Produzenten zum Zuge, die am schnellsten liefern konnten. Die Umwälzung in der Welt der Produktion und des Handels kam in der – im Vergleich zum Mittelalter - neuen Mentalität der Kaufleute zum Ausdruck. Dazu gehörte der Sinn für Begriffe wie Zeit, Sicherheit, Vorausschau, Genauigkeit, die seit dem 15. Jahrhundert immer stärker Eingang ins Wirtschaftsleben fanden. Im Zuge dessen sei auch erwähnt, dass sich die Stellung und das Ansehen der großen Unternehmer in sozialer und ethischer Hinsicht im Wandel begriffen waren. So schrieb ein Jahr nach Reuchlins Tod Jakob Fugger der Reiche an Kaiser Karl V., bestrebt, das Geld zurückzuerhalten, das er dem Kaiser geliehen hatte, damit dieser die deutschen Kurfürsten dahingehend beeinflussen konnte, dass nicht der französische König zum deutschen Kaiser gewählt wurde: „Es ist auch wissentlich und ligt am tag, dass Ew. Kays. Mt. Die Römisch Cron ausser mein nicht hetten erlangen mögen... So hab ich auch hierin mein aigen nutz nit angesehen; dann wo ich con dem hauss Oesterreich absteen und Frankreich fürdern hette wollen, wolt ich gros guott und Gelt, wie mir dan angeboten worden, erlangt haben. Was aber Ew. Kay. Mt. Und dem hauss Oesterreich nachtail daraus entstanden were, das haben Ew. Kay. Mt. Aus hohem Verstand wol zu erwegen.“ Geldverleih an einen Kaiser war durchaus nichts Neues, ebenso wenig die Forderung nach Rückerstattung. Neu war jedoch der Ton des Briefes. Hierin zeigt sich, welch großer Wandel in der geistigen Einstellung zu Kapital, Macht, Politik und Gesellschaft sich allmählich vollzog.

Einer der bedeutendsten qualitativen Sprünge in der Geschichte der Wissenschaft vollzog sich zweifellos zwischen der Mitte des 15. und der des 16. Jahrhunderts. Ein qualitativer Sprung nicht so sehr auf rein theoretischer Ebene als vielmehr im Sinne der praktischen, konkreten Problemstellung. Dazu gehört auch, dass nicht nur geniale Männer wie Kopernikus, Gutenberg, Vesalius oder Leonardo außerordentliche Ideen hatten. Bemerkenswerter ist, dass diese Ideen einen ungewöhnlichen Widerhall in der damaligen Gesellschaft fanden, womit die Gesellschaft trug ihrerseits zur Entstehung beitrug. Nur dadurch kann sich ein so außerordentlicher geistiger Aufschwung in dieser Zeit erklären. Warum fanden die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse gerade in dieser Phase eine besondere und auch breite Aufnahmebereitschaft? Zweifelsohne gehörte dazu eine Zurückdrängung geistiger Verschlossenheit. Wissenschaft allein ist nicht der Schlüssel zur Erklärung. Erst in der Verbundenheit von Wissenschaft und Technik wird der zwischen 1450 und 1550 neu erkennbare Trend verständlich. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts erleben nämlich jene Künste, die das Mittelalter eher herabwürdigend als „mechanisch“ bezeichnete, eine hohe Anerkennung. So setzte sich die Meinung durch, dass es der Wissenschaft nicht zugute käme, wenn sie sich in einem globus intellectualis abkapselt, sondern sich mit dem globus mundi verbinde. Dazu gehört die Erkenntnis und die Würdigung des Experimentierens. Von dieser Erkenntnis zeugt auch die Diskussion in den führenden ökonomischen Zentren Europas um die Einführung von Patenten und des Patentschutzes - in Venedig 1474 zum Gesetz erhoben. Wichtig ist, dass wir uns bei den neuen Erfindungen beileibe nichts allzu Großartiges und Kompliziertes vorstellen dürfen. Im Zentrum standen dabei Mühlenprojekte, Wasserhebemaschinen, Erdbohrer, Pumpen, Verbesserungen des Wasserbaus, Instrumente zur Glasbearbeitung, Verbesserungen in der Verhüttungstechnik, der verstärkte Einsatz der Hydraulik, Arbeitshilfen für den täglichen Bedarf, wie z.B. selbstrotierende Bratspieße. Neu war beispielsweise die Buchdruckerkunst mit beweglichen Lettern oder das Artilleriewesen. Ganz besonders gelangte der Maschinenbau zu einer ungewöhnlichen Blüte. Die Verbesserungen waren vor allem dazu gedacht, bestimmte Tätigkeiten schneller und mit weniger Arbeitsaufwand auszuüben, dazu gehörte auch ein anderer Arbeitsrhythmus, der von dem des Menschen verschieden war. Die dadurch erreichte Effizienz muss teilweise beachtliche Ausmaße erreicht haben, berücksichtigt man den vielfachen Protest der Zünfte, die die Rationalisierung menschlicher Arbeitskraft durch neue Maschinen befürchteten. Die entscheidenden Merkmale der technischen Erfindungen und neuen wissenschaftlichen Perspektiven jener Zeit waren ihre Zweckbezogenheit und ihre innere Dynamik, wie dies beim Messen der Zeit und dem Messen des Raumes zu Beginn des 16. Jahrhunderts deutlich zum Ausdruck kommt. Nicht alle der neuen Erfindungen und Techniken wurden sofort mit breiter Wirkung umgesetzt. Manche Neuerungen kamen erst sukzessive ins Bewusstsein bzw. fanden erst allmählich Eingang ins tägliche Leben und oftmals setzte sich erst zögernd die Erkenntnis des Wertes der neuen Erfindung für den Menschen und die Gemeinschaft durch. Zweifellos handelt es sich bei den meisten Neuerungen um Techniken, die den oberen Gesellschaftsklassen dienten. Aber gerade diese Gesellschaftsklassen waren es, die das mittelalterliche Gefüge veränderten.

Betrachten wir einen weiteren Vorgang, der die europäische Wirtschaft in eine andere ökonomische Dimension führte: die sogenannte Preisrevolution des 16. Jahrhunderts. Für die Bevölkerung des 16. Jahrhunderts war das wirtschaftlich beeindruckendste Phänomen der fast überall in Europa zu beobachtende Anstieg der Preise. Dies führte dazu, dass die Zeitgenossen sich mit diesen Preissteigerungen beschäftigten und sich bemühten, die treibende Kräfte dafür zu erkennen. Am berühmtesten sind dabei die Schriften des französischen Staatsrechtlers Jean Bodin geworden, der 1591 seine Arbeit „De monetis et re nummaria“ veröffentlichte. Der Mensch des 16. Jahrhunderts empfand die Preissteigerungen als einen umwälzenden und beängstigenden Vorgang. Nach heutiger Einschätzung handelte es sich dabei durchaus nicht um eine Preisrevolution, sondern um das heute nur allzu gewohnte Erscheinungsbild einer schleichenden Inflation, die als Indikator für Wachstum und einen sich langsam entwickelnden Wohlstand gilt. Bodin, wie die meisten seiner Zeitgenossen, ging davon aus, dass die Preissteigerungen im Kontext internationaler transozeanischer Waren- und Geldströme standen. Im Zentrum der Diskussion stand der Silber- und Goldstrom, der von der Neuen Welt nach Europa zur Großmacht Spanien floss. Mit dem Entstehen des spanischen Kolonialreiches wurde die Ausbeute der reichen südamerikanischen Silberminen, insbesondere aus Mexiko und Peru, seit den 1520er Jahren stark forciert. Man vermutet, dass zwischen 1520 und 1570 ca. 9.000 Tonnen Silber und ca. 100 Tonnen Gold aus diesen Ländern gefördert wurden. Aufgrund solcher Überlegungen stellte Bodin die erste geldtheoretische Gleichung über die Relation von Geldmenge, Umlaufgeschwindigkeit des Geldes und Preise auf, was zugleich einer der ersten Beiträge zur Theorie volkswirtschaftlicher Zusammenhänge darstellte und der Öffentlichkeit die ökonomischen Zusammenhänge vor Augen führte, die sie real erlebten. Denn zwischen 1520 und 1530 stiegen die Getreidepreise in Europa zwischen 300 und 450 Prozent, die Fleisch- und Eiweißprodukte um ca. 250 Prozent. Damit wurden empirische Erfahrungen aus dem Alltagsleben der Menschen auf ökonomische Vorgänge fokussiert und lösten zu Ende des 16. und im 17. Jahrhundert die intensive Beschäftigung mit volkswirtschaftlichen Zusammenhängen aus, der Merkantilismus entstand, der Beginn moderner Wirtschaftswissenschaften. Dabei spielte es keine Rolle, wenn die Zeitgenossen den Preissteigerungen die falschen Ursachen zuerkannten: Wie wir heute dank internationaler Forschung wissen, wurde ca. 60 Prozent der ausgebeuteten Edelmetalle als Kompensationszahlungen für den Asienhandel verwandt, um Kaffee, Tee, Zucker, Gewürze, Seide und Baumwolle nach Spanien einzuführen. Europa hatte außer Edelmetalle, die in Indien und vor allem in China eine höhere Wertschätzung als in Europa besaßen, nichts Entsprechendes entgegenzusetzen, und europäische Kunstprodukte wurden in den fernen Kulturkreisen nicht nachgefragt. Die tatsächlichen Ursachen für die Preissteigerungen des 16. Jahrhunderts war der starke Anstieg der Bevölkerung, die sich in diesem Jahrhundert nahezu verdoppelte. Durch die erhöhte Nachfrage nach Grundlebensmitteln und einer nur beschränkten Produktionsausweitung bei nahezu gleichbleibendem technischen Fortschritt entstand eine sogenannte inflatorische Lücke. Zusammen mit der Erhöhung der Geldumlaufgeschwindigkeit infolge des zugenommenen Welthandels entstanden die Preissteigerungen.

Wenden wir uns nun zu einer der folgenschwersten wirtschaftlichen Neuerungen zu, die die Wirtschaftsstruktur des Mittelalters scharf attackierte. Am Ende dieses Prozesses stand dann die vollständige Auflösung der nachhaltig wirkenden mittelalterlichen Reststrukturen. Das Zauberwort hieß Verlagssystem und dieser Sprengsatz wurde just am Übergang vom Mittelalter zur Moderne, also zur Lebenszeit Reuchlins gezündet. Zuvor fand das Verlagswesen keine allgemeinere Verbreitung. Mit dem Verlagswesen verbunden ist die Hausindustrie, die bevorzugt in jenen Gebieten Eingang fand, die den Bauern nur einen schmalen Ertrag ermöglichten, sei es auf Grund der Bodenbeschaffenheit, der Realteilung oder von beidem. Diese Bauern waren froh, über eine zweite Einkommensquelle zur Deckung ihrer Lebenskosten verfügen zu können. Ich darf an dieser Stelle nochmals daran erinnern, dass in den damaligen Volkswirtschaften mindestens 70 Prozent auf den landwirtschaftlichen Sektor entfiel. Dazu gehörten Gebiete wie der Schwarzwald, die schwäbischen und fränkischen Juragebiete, Bayerisch-Schwaben, Franken, Thüringen, das Erz- und Riesengebirge, Teile Hessens und Westfalens, das Rheinland, oder die Lausitz und Schlesien, um nur einige zu nennen. Allein schon die Aufzählung zeigt, dass es sich dabei um einen komplexen und keineswegs regional begrenzten Bereich handelte. Am meisten verbreitete sich das Verlagssystem im Textilgewerbe, bei der Baumwoll- und Leinenverarbeitung, bei der Herstellung und Verarbeitung von Wolltuchen und Seide, sogar im Verhüttungsgewerbe, dann im Metallgewerbe, insbesondere in der Kleineisenwarenherstellung, in der Drahtfabrikation, im Waffengeschäft, sowohl bei Schussfeuerwaffen als auch bei Blankwaffen, ebenso im Holzgewerbe, im Buchdruck, in der Spielzeugherstellung sowie in der Zuliefererfertigung für allerlei tägliches Gerät, das in größeren Stückzahlen einheitlich gefertigt werden konnte.
Aber was war ein Verlag und wie arbeitete dieses Verlagssystem? Es beruhte darauf, dass ein Kaufmann mit im Nebenerwerb arbeitenden gewerblichen Produzenten, meist Bauern, einen Vertrag abschloss, der regelte, dass der Verlegte unter Mithilfe seiner Familie die Herstellung der Waren besorgte, der handelsmäßige Absatz, die Finanzierung und Bereitstellung der Produktionsmittel sowie des Rohmaterials Gegenstand des Verlegers war. Damit nahm der Verleger auch auf die Gestaltung des Produktionsvorgangs entscheidenden Einfluss und bestimmte Arbeitsleistung und Produktionsertrag. Mit dieser Konstruktion wurde der Verlegte von den unmittelbaren Beziehungen zum Markt ausgeschaltet. Dies führte zu einer Verengung des wirtschaftlichen Tätigkeitsbereiches und des ökonomischen Blickfelds, der Verlegte wurde auf die technische Fertigung beschränkt. Innerhalb dieser Konstruktion gab es eine Fülle von Zwischenformen und Besonderheiten. Generell ist jedoch festzustellen, dass die meisten Haus- oder Nebenerwerbstreibenden oft recht schnell auf Gedeih und Verderb den Verlegern ausgeliefert waren. Hauptursache daran war die mäßige handwerkliche Fertigkeit der Nebenerwerbstätigen, die als Angelernte nur gleichförmige Arbeiten ausführen konnten. Die Folge davon war, dass die Verleger ein möglichst niederes Lohnniveau anstrebten und – heute würden wir sagen – ein Preisdumping betrieben, was bei steigender Bevölkerung und einem Überangebot an Arbeitskräften von den Verlegern auch durchgesetzt werden konnte. Diese Situation, ausgelöst durch ein starkes Ansteigen der Bevölkerung, herrschte zwischen 1450 und dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges und im ganzen 18. Jahrhundert vor. Verstärkt durch die Tatsache, dass auf dem Lande durch den bäuerlichen Arbeitsrhythmus zumindest im Winterhalbjahr permanent Unterbeschäftigung vorhanden war, bei kinderreichen Familien in Gebieten der Realteilung existierte in der meisten Zeit des Jahres Unterbeschäftigung. Hinzu kam noch eine andere Dimension. Seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert bildete sich in Europa eine regionale Differenzierung der Agrarproduktion heraus. Das relativ wohlhabende 16. Jahrhundert ermöglichte den Bauern Spezialisierungen, da auf breiter Basis die Nachfrage nach teureren landwirtschaftlichen Produkten wie Fleisch, Gemüse oder Milchprodukte zunahm. Dies führte zu einer stärkeren Arbeitsteilung in der Landwirtschaft und zu landwirtschaftlichen Produktionsgürteln. So entstanden Gebiete, die sich der Getreidewirtschaft ab- und der weniger arbeitsintensiven Viehwirtschaft zuwandten, bzw. Mischformen anstrebten. Dies war eine weitere Quelle für die Unterbeschäftigung auf dem Lande.
Diese Entwicklung führte zur Krise der städtischen Exportgewerbe seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert. Vor allem zwei Faktoren bewogen das Handelskapital d. h. die Verleger dazu, das ländliche Arbeitskräftepotential zu erschließen:
Erstens: Die Lohnhöhe. Die Löhne lagen in den Städten grundsätzlich deutlich höher als auf dem Lande, da die ländliche Bevölkerung mindestens im Bereich der Nahrungsmittel Selbstversorger waren, während die städtische Bevölkerung die Nahrungsmittel teuerer einkaufen musste. Schon allein diese Tatsache führte zu einem anderen Lohnniveau. Zudem kamen neben den allgemeinen Lebenshaltungskosten in der Stadt gewisse Lohnnebenkosten hinzu. Ferner konnte der Lohn bei angelernten Arbeitern schon aus psychologischen Gründen niedriger gehalten werden als bei ausgebildeten Handwerkern. Und es kam noch hinzu, dass die Nebenerwerbshandwerker nicht dem strengen und inflexiblen ordnungs- und gesellschaftspolitischem System der Zunft unterlagen.
Zweitens: Ein weiterer Faktor, der für die Standortausweitung der gewerblichen Warenproduktion sprach, war die oft geringe Flexibilität der Zünfte in Bezug auf die Erfordernisse des Marktes. So gelang es ihnen vielfach nicht, mit der seit Beginn der Neuzeit schnell expandierenden Nachfrage vor allem auf den internationalen Märkten, nicht zuletzt in der kolonialen Welt, die als Absatzmarkt für gewerbliche Erzeugnisse von immer größerer Bedeutung wurde, Schritt zu halten. In Schlesien war bereits vor 1600 die Zahl der Leinenwebstühle auf dem Lande höher als in der Stadt. Für diese Entwicklung gibt es aber nicht nur deutsche Beispiele: 1686 trafen in Cadiz das in Saint- Malo in der Bretagne hergestellte Leinen im Werte von beinahe 4 Millionen Livres ein, das zu 90 Prozent für den amerikanischen Markt bestimmt war.
Das Verhalten der hausindustriellen Produzenten und überregionale, bis in die koloniale Welt hineinreichende Märkte waren Bestimmungsfaktoren der vorindustriellen Gesellschaft. Unter diesen Bedingungen war die Durchsetzung des Verlagssystems die einzige Möglichkeit, die Begrenztheit der heimischen Märkte zu überwinden und die Nachfrage zu erweitern. Das zentrale Moment für das Funktionieren des vorindustriellen Systems war, die Arbeitskosten auf das Land zu verlagern. Das Handelskapital wälzte die Arbeitskosten zu großen Teilen auf den Agrarsektor ab. In der vorindustriellen Zeit reagierten die Kaufleute und
Verleger beim generellen Trend steigender Lohnkosten immer wieder damit, die gewerbliche Warenproduktion noch stärker auf das Land zu verlagern und das dortige Arbeitskräftereservoir zu nutzen. Bei sinkenden Marktpreisen forcierten sie die Massenproduktion, um damit die Stückkosten zu senken. Die Standortausweitung der gewerblichen Warenproduktion traf die zünftisch gebundene städtische Exportwirtschaft in ihrem Lebensnerv. Im Fokus standen dabei die aus dem Mittelalter herkommenden städtischen Zünfte. Dabei sind verschiedene Auswirkungen festzustellen. Erstens: Die hochwertigen Erzeugnisse der zünftlerischen Gewerbe wurden von den internationalen Märkten verdrängt. Die Zünfte produzierten in immer größerem Maße schlechtere Qualitäten, um überhaupt im Geschäft bleiben zu können. Nur wenige Luxusgewerbe, die von der Preishöhe unbeeinflusst waren, wie z. B. das Gold- und Silberschmiedehandwerk oder das Juweliergewerbe, blieben davon unberührt. Zweitens: Die Zünfte mussten versuchen, ihre Angebote flexibler in Menge, Qualität und Preis abzugeben. Die Folge davon war, dass oftmals ganze Zünfte von den Verlegern und international operierenden Kaufleuten unter Vertrag genommen wurden, die ihnen Löhne und Preise diktierten. Es bestand die Gefahr, dass die Zunftmitglieder zu reinen Lohnempfängern herabsanken, was ihre wirtschaftliche und soziale Stellung in den Städten verschlechterte und in manchen Fällen, vor allem in Zeiten starker Bevölkerungsexpansion, zu einem Handwerker- bzw. Zunftproletariat führte. Drittens: Durch das Verlagssystem bildete sich immer mehr eine interregionale Arbeitsteilung sowohl in der Agrar- wie in der Warenproduktion heraus. Viertens: Die neue Wirtschaftsform begünstigte rapid die Kommerzialisierung der Landwirtschaft.

Diese bereits zur Lebzeiten Reuchlins im Entstehen begriffene Situation einer vorindustriellen Wirtschaft, in dessen Zentrum das Verlagssystem rückte, ebnete den Weg zur Industrialisierung. Auf der einen Seite konnte das international agierende Verlegertum über Jahrhunderte hinweg Kapital akkumulieren. Nur das Handelskapital konnte das für die Industrialisierung notwendige Industriekapital freisetzen, das für die hohen Investitionskosten der Industrialisierung erforderlich war – denn es darf nicht vergessen werden, der erste Industrialisierungsschub erfolgte nicht aus dem Handwerk, sondern aus dem Handelskapital. Auf der anderen Seite war das Zunftsystem durch das Aufkommen der neuen Wirtschafts- und Ordnungsformen dem Untergang geweiht. Aber auch das Verlagssystem bot infolge rasant wachsender Bevölkerung im 18. Jahrhundert, verbunden mit der Forderung nach immer stärkerer Massenproduktion, keine Zukunftsperspektive. Hinzu kam, dass durch zunehmende Selbstvermarktung der Verlegten, durch Überwindung des staatlichen Merkantilsystems, das die Rolle der Verlegten durch staatliche Privilegien zementiert hatte, durch neue Wirtschaftssysteme und –theorien im Zuge der Aufklärung, die Rolle der Verlegers keine Zukunft besaß und ihm die historische Rolle des Wegbereiters der Industrialisierung zuwies. So wurde bereits zur Zeit Reuchlins die Saat gelegt, die die Gesellschaft in das Industriezeitalter überführen sollte.


Copyright:
Alle Rechte vorbehalten.
Reproduktionen, Speicherungen in Datenverarbeitungsanlagen oder Netzwerken, Wiedergabe auf elektronischen, fotomechanischen oder ähnlichen Wegen, Funk oder Vortrag - auch auszugsweise - nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors.

Nach oben
Prof. Dr. Gert Kollmer
-von Oheimb-Loup
Direktor des
Wirtschafts-archivs Baden-Württemberg

Copyright bei CKK Pforzheim, Stand 06.01.2015