Wenn man in den vergangenen Wochen und Monaten über Schule sprach, hatte dies meist einen
negativen Hintergrund. Das gilt für Schulen in der Bundesrepublik, im Land Baden-Württemberg,
und leider auch in Pforzheim.
Die vom Bundesinnenministerium und dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen
vorgestellte Studie über Jugendliche als Täter und Opfer von Gewalt hat nur eine Woche nach der
erschütternden und immer noch ratlos machenden Amoktat in Winnenden zwar bundesweit einen
Rückgang von Jugendgewalt, gleichzeitig aber einen erschreckend hohen Anteil von Fremden-
feindlichkeit und Rechtsextremismus festgestellt. 4,3 Prozent der Jugendlichen, das ist fast jeder
Zwanzigste offenbarte demnach stark antisemitische Haltungen. Nun kann man einwenden, dass
Jugendliche ja nicht immer Schüler oder Schülerinnen sind und dass gerade in Gymnasien, an denen
Jugendliche am längsten verweilen und die sie erst im jungen Erwachsenenalter und nach einer
erwiesenen Reife verlassen, das Problem niedriger anzusiedeln sei. Dass dem nicht zwangsläufig so
ist, haben die auch bundesweit wahrgenommenen Schlagzeilen aus Pforzheim offenbart.
Es wird nicht erst in den vergangenen Wochen, aber seitdem verstärkt, viel geschrieben, geredet
und diskutiert über Jugend und Schule. Das ist gut so, denn Jugend bedeutet Zukunft und Schule
bereitet die Jugend auf ihre eigene und unsere Zukunft vor diese beiden Sonntagsredenweisheiten
werden Sie mir als Nicht-Politiker und obendrein an einem Sonntag verzeihen.
Aber, wie Wilhelm Busch festgestellt hat, muss, „wer leben will, auch etwas tun“. Und es ist vielleicht
nicht die schlechteste Idee vor dem Hintergrund der eingangs geschilderten Umstände, gute Taten zu
honorieren. Die drei Stifterorganisationen des neu ins Leben gerufenen Georg-Simler-Preises würdigen
mit der heutigen Preisverleihung auch von Schulen ausgehende Initiative, die nicht selbstverständlich ist.
Der Simler-Preis soll künftig alle zwei Jahre eine besondere Lern- oder Prüfungsleistung oder eine Projektarbeit auszeichnen, die sich mit einem stadtgeschichtlichen Thema beschäftigt. Namensgeber
des Preises ist Georg Simler. Simler machte zu Beginn des 16. Jahrhunderts aus der Pforzheimer
Lateinschule einen der bedeutendsten Lehr- und Lernorte des Humanismus, deren berühmtester
Schüler Philip Melanchthon war. Mit der Namensgebung ruft man aber nicht nur den Ruhm und
die Bedeutung der Pforzheimer Lateinschule für den Humanismus als Epoche in Erinnerung, sondern
beruft sich auch auf die weitergehende Bedeutung vom Humanismus als einer Weltanschauung, die
sich an der Würde des Menschen orientiert, einem Weltbild, das Toleranz, Gewaltfreiheit und Gewissensfreiheit als Prinzipien menschlichen Zusammenlebens betrachtet.
Im ersten Jahr gibt es gleich zwei Preisträger. Lassen Sie mich kurz erläutern, warum die beiden
Klassen 10d und 12c des Theodor Heuss-Gymnasiums Pforzheim den ersten Georg-Simler-Preis
verdient haben:
Was im vorvergangenen Schuljahr mit einem harmlosen Archivbesuch für die jetzige 12c begann,
bei dem die Schülerinnen und Schüler kurz Aufgaben und Bestände eines Kommunalarchivs erläutert bekamen, wuchs sich zu einer mehrwöchigen Projektarbeit aus. Bei Folgebesuchen im Archiv während und außerhalb der Unterrichtszeiten verfolgten die Schülerinnen und Schüler den Lebens- und
Leidensweg der Pforzheimer Jüdinnen und Juden, die am 22. Oktober 1940 in das Internierungslager
Gurs in Frankreich deportiert wurden. Eine komplett selbst erstellte Ausstellung wurde am Jahrestag
der Deportation 2007 im Neuen Rathaus eröffnet.
Die Erfahrungen und Kenntnisse, in der Methodik der Recherche, im Umgang mit Archivmaterialien, in
der Gestaltung einer Ausstellung, aber auch im Umgang mit Kritik, gab die Schulklasse weiter an die
jetzige 10d. Unterstützt durch die Älteren als Mentorinnen und Mentoren erarbeitete die 10. Klasse ebenfalls größtenteils im Archiv, also an Originalmaterialien, eine Ausstellung über den Kriegsalltag in Pforzheim. Die Ausstellung ist von der bilingualen Klasse in deutsch und englisch abgefasst, weil sie
Teil eines Projekts mit der Partnerschule des Theodor-Heuss-Gymnasiums, der Howell’s School in Llandaff in Wales ist. So kommt es auch, dass die Ausstellung nicht nur im Rathaus in Pforzheim,
sondern auch in Llandaff, einer Stadt, die während des Zweiten Weltkriegs unter deutschen Bomben
leiden musste, gezeigt wurde.
Die von der Klasse 10d mit Unterstützung der Klasse 12c vorbereitete Ausstellung über den Kriegsalltag in Pforzheim ist insofern auch ein Beitrag zur internationalen Verständigung. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte vor Ort, mit authentischen Quellen hat zu einem lebendigeren Zugang und somit zu nachhaltiger wirkenden Wissen geführt als die trockenen Zahlen- und Faktenreihen der Geschichtsbücher. Die Schülerinnen und Schüler haben sich ihren persönlichen, an die eigene Lebenswelt anknüpfenden Zugang zur Vergangenheit erschaffen und gleichzeitig internationale Grenzen überschritten. Ganz nebenbei wurde damit auch eines der Ziele des 2004 überarbeiteten Bildungsplans Baden-Württembergs erfüllt, nachdem im Geschichtsunterricht „Themen und Zeugnisse der Lokal- und Regionalgeschichte in besonderer Weise zu berücksichtigen sind, weil sie sowohl das historische Interesse am eigenen Lebensraum fördern als auch Ausgangspunkt übergreifender Untersuchungen und Erkenntnisse sein können“.
Ganz besonders hervorzuheben bei dem Projekt ist außerdem die Idee der Tutorenschaft, die gegenseitiges Verständnis, aber vor allem auch Verantwortungsgefühl gegenüber den Älteren oder Jüngeren, aber auch dem Gesamtprojekt gegenüber stärken konnte. Schließlich und endlich werden
durch die Weitergabe an andere erworbene Kenntnisse und Fertigkeiten verfestigt.
Preiswürdig war auch das Engagement der Schülerinnen und Schüler, die nicht nur geliebten und ungeliebten Unterricht in anderen Fächern versäumen oder nachholen mussten, sondern die auch
Freizeit geopfert haben.
Sie finden sich damit in bester Gesellschaft: Philipp Melanchthon erinnerte sich zeit seines Lebens an
die Griechisch-Stunden, die er außerhalb des üblichen Stundenplans beim Namensgeber des heute zu verleihenden Preises, bei Georg Simler, besuchte. Er habe seinen Griechisch-Lehrer „wie einen Vater geehrt“.
Heutzutage sollten Lehrer nicht auch noch Vater sein, die meisten Menschen sind froh, wenn Vater
und Mutter zuhause als Ansprechpartner den Schülerinnen und Schülern zur Verfügung stehen.
Immerhin aber haben die beiden Projekte auch eine „Mutter“. Ohne die Initiative, die Idee und das schulische und außerschulische Engagement von Frau Heike Reifurth, der Geschichtslehrerin der 10d
und 12c, wären die beiden Ausstellungsprojekte nicht durchführbar gewesen.
Dabei musste und konnte sie auf das Verständnis des gesamten Kollegiums bauen, wenn es um verschobene Unterrichtseinheiten ging oder wenn der Weg vom Stadtarchiv in der Nordstadt zum
THG sich auf wundersame Weise ausdehnte. Stellvertretend für alle seien die beiden Schulleiter,
Herr Karl-Heinz Renner und Herr Udo Kromer genannt.
Preisträger aber sind die Schülerinnen und Schüler und deshalb schließe ich mit der Aussage eines Schülers, zu finden in einem Projektbericht zur Ausstellung über die Schicksale von Pforzheimer
Juden im „Dritten Reich“: „Wir waren durch die Erarbeitung der Ausstellung mit Originaldokumenten
den verfolgten Menschen und ihren Schicksalen sehr nahe und haben viel gelernt.“
„Die Schule sollte Denken lehren, nicht Gedachtes“, hat der Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt formuliert. Dies scheint, so lassen die Worte des Schülers, schließen, mit den heute ausgezeichneten Projekten gelungen. Besseres kann man kaum tun, um den eingangs zitierten Ereignissen mit ihren schlechten Schlagzeilen entgegen zu wirken.
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Dr. Christian Groh,
Stellvertretender Leiter
des Stadtarchivs Pforzheim
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